Pflegestudium: den großen Pflegebedarf angemessen und nachhaltig decken
Akademisierung Teil II/Pflegestudium: Prof. Dr. Katharina Lüftl ist Professorin für Pflegewissenschaft und leitet den dualen Bachelorstudiengang „Pflege“ der Technischen Hochschule Rosenheim. Im Interview erläutert sie die beruflichen Einmündungsfelder und Qualifikationen von Absolvent*innen, spricht über Praxisverbindungen, die der Studiengang herstellt und über Erwartungen und Erfahrungen von Studierenden und Absolvent*innen.
Frau Professorin Lüftl, welche beruflichen Einmündungsfelder sehen Sie für Ihre Bachelorabsolventinnen und -absolventen mit beruflichem Examen in einem Pflegeberuf?
Prof. Dr. Katharina Lüftl: Grundsätzlich sehe ich sie überall dort, wo Menschen gepflegt oder bezüglich pflegerelevanter Fragen beraten werden und wo es um die Lösung von Fragestellungen der Pflegeversorgung geht. Besonders begrüßen würde ich es, wenn möglichst viele Absolvent*innen in der direkten Pflege eingesetzt werden und ihre Kompetenzen in den Pflegeprozess einbringen. Sie sind außerdem dafür qualifiziert, in Patientenschulungs- und -beratungszentren oder auch als Pflegeberater*innen nach SGB XI §7a tätig zu werden, hier also eine Lotsenfunktion für von Pflegebedürftigkeit betroffene Familien einzunehmen. Letzteres erfordert allerdings das Belegen von zwei Wahlmodulen.
Für unsere Absolvent*innen sind auch pflegewissenschaftliche Stabsstellen in Krankenhäusern und Einrichtungen der stationären Altenhilfe geeignet, die wissenschaftlich fundierte Konzepte anpassen, einführen und weiterentwickeln. Dabei kann es z. B. um die Einführung von Assessmentinstrumenten oder die Entwicklung eines Konzepts, wie eines Ernährungsmanagementkonzepts oder die Einführung der interprofessionellen Visite gehen.
Da unsere Studierenden die Zusatzqualifikation zum Praxisanleiter bzw. zur Praxisanleiterin absolvieren können, bieten sich auch Stellen an, die in die praktische Pflegeausbildung involviert sind. Die Vorgaben im neuen Pflegeberufegesetz zu akademisch qualifizierten Praxisanleiter*innen für die Betreuung von Studierenden primärqualifizierender Studiengänge eröffnen hier sehr gute Chancen. Auch Behörden oder öffentliche Einrichtungen der Gesundheitsversorgung eignen sich für Bachelorabsolvent*innen, so etwa im Bereich des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, in Landesbehörden oder beim MDK.
Es gibt Bereiche, in denen die Einmündung leichter gelingt als in anderen. Das ist sehr abhängig von den Führungskräften der Einrichtungen und deren Wissen über die Anforderungen einer evidenzbasierten Versorgung. Maßgeblich ist auch die Offenheit dafür, einen Mitarbeitenden einzustellen, der über Kompetenzen verfügt, die die Führungsperson selbst nicht hat. Die meisten Pflegedienstleitungen haben selbst eine klassische Pflegeausbildung absolviert, kein pflegewissenschaftliches Studium, das kann verunsichern. Viele wissen deshalb auch nicht, warum es so wichtig ist, hochschulisch ausgebildete Pflegepersonen in die Einrichtung zu holen – unter evidenzbasierter Pflegepraxis können sie sich zu wenig vorstellen.
Kennen Sie die Erwartungen Ihrer Absolvent*innen an die beruflichen Einmündungsfelder?
Das Wichtigste ist, dass unsere Absolvent*innen Stellen erhalten, in denen sie ihre Kompetenzen zur Geltung bringen können. Sie können sehr gut Pflegesituationen analysieren, den Stand der Forschung einbeziehen und mit Betroffenen geeignete Maßnahmen abstimmen. Sie können interprofessionell denken und handeln, eine Schlüsselkompetenz! Sie sind in der Lage, Ansatzstellen für die Verbesserung von Versorgungsprozessen zu erkennen und geeignete Verbesserungsstrategien zu implementieren. Wenn ihnen hierzu die erforderlichen Handlungsspielräume gegeben werden, sind die wichtigsten Erwartungen erfüllt. Die Studierenden äußern zudem häufig, dass sie sich Interesse und Wertschätzung für ihre Qualifikation wünschen. Wenn sie in den praktischen Studienanteilen in Arbeitsbereichen eingesetzt sind, in denen man ihnen interessiert begegnet und ihnen Handlungsspielräume eröffnet, blühen sie auf. Manchmal sind sie aber mitgenommen davon, dass sie mit Vorurteilen gegenüber Akademiker*innen konfrontiert werden.
Wie werden die Bachelorabsolvent*innen seitens der Hochschule konkret auf die Pflegepraxis vorbereitet?
Wir haben sogenannte Praxistransfermodule, in denen über problemorientiertes Lernen, Fallarbeiten und Projekte der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in praktisches Handeln geplant und erprobt wird. Im Praxistransfermodul Ernährungsmanagement suchen sich die Studierenden in ihrer praktischen Ausbildung z. B. eine pflegebedürftige Person, bei der sie das Ernährungsassessment durchführen und mit der sie auf der Grundlage der erhobenen Ergebnisse geeignete Ernährungsinterventionen planen und umsetzen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Berufsfachschulen Praxisaufträge für die praktische Ausbildung entwickelt. Dabei handelt es sich um umfangreiche Handlungsaufgaben, die in der Pflegepraxis über mehrere Tage bearbeitet werden und eine Recherche sowie Abwägung von Handlungsoptionen notwendig machen. Themen dieser Praxisaufträge sind z. B. Anamnesegespräche, Biografiearbeit, Sturzprophylaxe oder Infektionsprophylaxe. Ziel ist die konsequente Vernetzung von Wissen, praktischem Können und reflexiver Kompetenz. Im achten Semester gibt es außerdem ein Modul, in dem die Studierenden Praxisentwicklungsprojekte bearbeiten. Die Themen werden von unseren Kooperationseinrichtungen eingebracht.
Wie können sich die Einrichtungen Ihrer Meinung nach gut auf die Absolvent*innen vorbereiten?
Die Integration von Bachelorabsolvent*innen in die Pflegepraxis ist eine komplexe Intervention, die aus mehreren Komponenten besteht, die zueinander in Beziehung stehen. Ihr Erfolg ist vom Verhalten verschiedener Personengruppen auf verschiedenen organisatorischen Ebenen abhängig. Eine intensive Vorbereitung und Begleitung ist essenziell. Der für die Vorbereitung fast wichtigste Schritt besteht darin, in der Einrichtung und bei Mitarbeitenden aller Ebenen sowie Berufsgruppen über das Pflegestudium zu informieren und den Bedarf für die Anstellung von Absolvent*innen des Pflegestudiums zu verdeutlichen. Ich schlage vor, dass Pflegende aller Qualifikationsniveaus ein Inhouseseminar zum Konzept der evidenzbasierten Pflegepraxis besuchen, um den gebotenen Änderungsbedarf zu verstehen. Hier hat die Leitung die tragende Funktion, durch Transparenz, Information und Fortbildung die Voraussetzungen für den Einmündungsprozess zu schaffen.
Natürlich ist die Entwicklung von Stellenprofilen essenziell, nicht nur für unsere Absolvent*innen sondern für alle Gruppen unterschiedlich qualifizierter Pflegepersonen, die ihren je eigenen Beitrag zur Patientenversorgung leisten und auf Grundlage von Aufgabenprofilen aufeinander abgestimmt handeln können sollen. Außerdem ist eine geeignete Infrastruktur zu schaffen, die z. B. die Literaturrecherche in wissenschaftlichen Datenbanken ermöglicht.
Welche praxisbezogenen Verknüpfungen finden zwischen der Hochschule und den möglichen Berufsfeldern statt?
Da unsere Studierenden eine praktische Ausbildung im Umfang von 2500 Stunden absolvieren, haben zahlreiche Einrichtungen in Südostoberbayern die Gelegenheit, sie im praktischen Arbeitsalltag kennenzulernen. Von Hochschulseite treffen wir uns einmal pro Semester mit Vertreter*innen von Berufsfachschulen und Praxiseinrichtungen, zu Kooperationstreffen, um uns auszutauschen und das duale Studium weiterzuentwickeln. Zudem haben wir das sogenannte „Forum Berufliche Einmündung“ ins Leben gerufen, das einmal pro Jahr stattfindet. Dafür laden wir Experten und Expertinnen ein, die bereits Erfahrung mit der Integration von Bachelorabsolvent*innen in ihrer Einrichtung gemacht haben. So versuchen wir, unseren Kooperationseinrichtungen Impulse und Anregungen zu geben. Unsere Fakultät verfügt außerdem über einen Beirat, dem viele Geschäftsführungen von Gesundheitsbetrieben aus der Region angehören und mit dem wir in Zukunft mehr zusammenarbeiten möchten.
Welche Erfahrungen machen Absolvent*innen in den Arbeitsfeldern?
Wir selbst haben noch keine Absolvent*innen, da es unseren Studiengang erst seit dreieinhalb Jahren gibt. Ich kenne aber Erfahrungen von Absolvent*innen anderer Hochschulen und höre von unseren Studierenden, die kurz vor dem Bachelor stehen, wie es ihnen bei der Klärung ihrer Zukunftsfrage geht. Insgesamt ist der Tenor, dass zu wenige Einrichtungen proaktiv geeignete Stellenprofile schaffen. Stattdessen warten sie eher darauf, dass die Absolvent*innen auf sie zukommen und einen Vorschlag unterbreiten, wie sie dort tätig werden könnten. Einigen Studierenden werden in ihren derzeitigen Arbeitsstellen Praxisentwicklungsprojekte angetragen, z. B. in der stationären Altenpflege die Einführung des Expertenstandards Beziehungsgestaltung oder des neuen Indikatoren-Modells nach QPR SGB XI. In mehreren unserer Kooperationseinrichtungen sind Absolvent*innen in pflegewissenschaftlichen Stabsstellen oder als Qualitätsmanagementbeauftragte tätig.
Einige Einrichtungen haben bereits durchdachte Modelle zur Integration von Bachelorabsolvent*innen entwickelt, darunter einige (Universitäts-)Kliniken. In der stationären Langzeitpflege kenne ich kein spezielles Modell, aber zwei Einrichtungen, in denen Bachelorabsolvent*innen ihre Arbeitsfelder selbst entwickeln konnten. Wir selbst haben wissenschaftliche Mitarbeitende in unserer Fakultät, die in Forschungsprojekten tätig sind. Diese haben nach ihrem Bachelor noch einen Masterabschluss erworben und eine wissenschaftliche Karriere eingeschlagen.
Warum würden Sie z. B. einer stationären Pflegeeinrichtung raten, akademisch primärqualifizierte Mitarbeitende einmünden zu lassen?
Nüchtern gesagt: Kranke und pflegebedürftige Menschen haben das Recht, nach aktuellen und allgemein anerkannten fachlichen Standards pflegerisch versorgt zu werden. In der Pflege liegt aber für die Versorgung nötiges Wissen vor, das nicht in die Praxis Einzug halten kann, weil es dort an Personen mangelt, die sich dieses Wissen holen, es kritisch beurteilen und anwenden können. Diese Methodenkompetenz kann nur ein Studium vermitteln. Ein Beispiel: Einrichtungen sind dazu verpflichtet, die Expertenstandards des DNQP einzuführen und umzusetzen. In der Praxis zeigt sich, dass dies bei weitem nicht gelungen ist. Vielen Pflegenden erschließt sich der Sinn der Expertenstandards gar nicht, weil diese keine Handlungsrezepte vorgeben. Hier sehe ich unsere Absolvent*innen als Dolmetschende wissenschaftlicher Erkenntnisse und Instrumente für die Praxis. Sie haben eine Schlüssel- und Multiplikatorenfunktion, um das Patientenrecht auf eine Versorgung nach aktuellem Stand zu gewährleisten. Deshalb sollte jede Einrichtung aus meiner Sicht in jedem Arbeitsbereich mindestens zwei hochschulisch ausgebildete Pflegepersonen haben.
Weiterhin verfügen unsere Absolvent*innen über ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten, können Pflegeargumente auch gegenüber der ärztlichen und weiteren Berufsgruppen fundiert begründen, können komplexe Sachverhalte analysieren und sind bereit, fachliche Verantwortung zu übernehmen. Das Pflegestudium ist nicht die einzige aber eine ganz wesentliche Antwort auf die aktuellen Probleme der Pflege. Wir brauchen diese guten Leute, um den großen gesellschaftlichen Pflegebedarf angemessen und nachhaltig zu decken.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Prof. Lüftl!
Text: Barbara PewsEva Lettenmeier
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