Vier Fragen an den Experten: Auswirkungen des BTHG auf den Bereich U6
Das BTHG hat in seiner Zielsetzung nicht nur Erwachsene Menschen mit Behinderungen im Blick, sondern verändert auch die Betreuung und Bedarfsermittlung von Kindern und Jugendlichen mit (drohenden) Behinderungen. Was sich für Anbieter von Dienstleistungen im U6-Bereich durch das BTHG und die ICF ändert, hat uns Prof. Dr. Norbert Heinen, ehemals tätig an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und freier Berater bei contec, am Beispiel von NRW erläutert.
Herr Prof. Heinen, die Umsetzung des BTHG und der damit einhergehende, oft beschworene Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe sind ja bereits in vollem Gange. Am 1.1.2020 tritt die dritte und wohl wirkungsmächtigste Reformstufe in Kraft: Die Eingliederungshilfe wird aus dem SGB XII in den zweiten Teil SGB IX n. F. überführt. Wieso ist dies für Anbieter von Dienstleistungen im U6-Bereich von so hoher Relevanz?
Meine Erfahrungen zeigen, dass viele Kita-Träger den Ernst der Lage noch nicht in vollem Umfang erkannt haben. Beim BTHG geht es um die Durchsetzung der UN-BRK, einer Menschenrechtskonvention. Ziel ist es demnach, Menschen mit Behinderungen in allen Lebensphasen künftig personenzentriert und nicht institutionsorientiert zu begleiten. Der Gedanke der Personenzentrierung, aber auch die gesamte neue Bedarfsermittlung werden den Alltag der Eingliederungshilfe umkrempeln – eben auch für die Kleinsten in unserer Gesellschaft. Auch Kita-Träger und andere Anbieter von U6-Leistungen müssen demnach ihr Angebot und ihre Leistungserbringung überdenken und ggf. neu ausrichten, um in Zukunft am Markt bestehen zu können.
Was ändert sich durch das BTHG bei den Zuständigkeiten in NRW im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe?
Die beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) möchten durch eine klare Zuständigkeitsregelung erreichen, dass landeseinheitliche Lebensverhältnisse für Kinder mit (drohender) Behinderung geschaffen werden. Dafür werden niederschwellige Anlaufstellen für Familien eingerichtet und die Leistungen aufgrund einer individuellen Bedarfsermittlung gewährt. Zudem werden passgenaue Hilfen geleistet, die besser miteinander verzahnt sind – ganz nach dem Motto „Leistungen wie aus einer Hand“. Weiterhin wird die Teilhabe der Kinder mit Behinderungen durch eine individuelle Bedarfsermittlung verbessert. Hierbei kommt den Fallmanager*innen eine zentrale Funktion zu. Eltern eines Kindes wenden sich (ggf. auf Anraten der Kita) an den bzw. die zuständige Fallmanager*in des LVR/LWL vor Ort. Diese Person ist dann die zentrale Instanz für den Ablauf und den Abschluss des gesamten Verfahrens. D.h. die Eltern und das Kind haben bestenfalls nur eine*n Ansprechpartner*in, der bzw. die sie durch das Verfahren führt und alle Teilaspekte koordiniert.
Welche Veränderungen kommen durch die Umsetzung des BTHG auf die Praxis der U6-Betreuung zu?
Wenn ein möglicher Bedarf des Kindes durch die Eltern geäußert oder angemeldet wird, wenden sie sich an das zuständige Fallmanagement vor Ort. Unter Umständen werden sie aber auch vom zuständigen Fallmanagement aufgesucht, beispielsweise dann, wenn ein möglicher Bedarf von anderer Seite – vom Kinderarzt, der Kita etc. – geäußert wird. In einem ersten gemeinsamen Gespräch können dann neben dem leistungsberechtigten Kind und dessen Eltern auch Personen des Vertrauens teilnehmen. Wenn eine gesundheitliche Einschränkung vorliegt, bedarf es zusätzlich einer ärztlichen Diagnose (ICD).
Bei der anschließenden Prüfung der Teilhabeeinschränkung durch das LVR-Fallmanagement wird das neue Bedarfsermittlungsinstrument hinzugezogen (BEI_NRW KiJu). Um dem Anspruch einer landeseinheitlichen Regelung gerecht zu werden, haben die beiden Landschaftsverbände dieses einheitliche Bedarfsermittlungsinstrument entwickelt, das an die besonderen Bedürfnisse von Kindern angepasst ist und die notwendige Ausrichtung an der ICF-CY berücksichtigt. Die jeweilige Institution, die das Kind besucht, ist hierbei in unterschiedlicher Form beteiligt. Sowohl die Beantragung und Bereitstellung der Leistungen für Kinder mit (drohender) Behinderung bis zum Schuleintritt als auch die Umsetzung der genehmigten (heilpädagogischen) Leistungen müssen von den Mitarbeiter*innen selbst oder durch zusätzliches Fachpersonal erbracht werden.
Hier gibt es unterschiedliche Modelle. Es kann über neue Finanzierungssystematiken oder angepasste Konzepte mehr Personal für Fachleistungen eingestellt werden oder aber weniger Plätze belegt werden. Fakt ist jedenfalls, dass diese Neuerungen erhebliche Auswirkungen auf die organisationale und konzeptionelle Entwicklung von Kitas haben werden.
Auf welche Neuheiten und Veränderungen muss sich die U6-Betreuung durch das neue Begutachtungsinstrument BEI_NRW KiJu einstellen?
Bei der Entwicklung des BEI_NRW KiJu waren drei Kernelemente leitend, die sich aus der Rückbindung an das BTHG ergeben:
- 1.Partizipation und Personenorientierung,
- 2. Ziel- und Wirkungsorientierung und
- 3. Orientierung am bio-psycho-sozialen Modell der ICF
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer mehrperspektivischen Bedarfsermittlung und -definition, einer konzeptionell begründeten Durchführung sowie einer Zielüberprüfung bzw. einer Wirkungskontrolle. Die Vorgaben besagen, dass die Verantwortlichkeiten bei den Leistungserbringern und bei den Institutionen zu benennen sind.
Um das leisten zu können und gleichzeitig den individuellen Bedarfen und legitimen Ansprüchen des einzelnen Kindes gerecht zu werden, müssen Mitarbeitende und Verantwortliche in den Kitas sich fortbilden. Ihnen muss das notwendige Fachwissen sowie (heilpädagogische) Methoden vermittelt werden.
Besonders zentral ist dabei die interdisziplinäre Zusammenarbeit, denn nur eine mehrperspektivische und sorgsam koordinierte Umsetzung der in der individuellen Bedarfsermittlung definierten Ziele für das Kind führen zu einer echten Personenzentrierung.
Die einzelnen Kitas und die Träger sind gut beraten, wenn sie eine Bestandsaufnahme bezüglich vorhandener Ressourcen vornehmen, um Kompetenzen zu identifizieren, die zur Geltung gebracht werden können, bzw. nach Kooperationsmöglichkeiten suchen, wenn Defizite kompensiert werden müssen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Heinen!
Interview: Marie Kramp © famveldmanBirgitta Neumann
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