„Sozialraumorientierung ist häufig eine leere Worthülse“: Birgitta Neumann über zeitgemäße Sozialarbeit
Mit Reformen der Sozialgesetzgebung – beispielsweise des SGB IX und SGB VIII – reagiert der Gesetzgeber auf die sich wandelnden Bedarfe in unserer pluraler werdenden Gesellschaft und der Menschen, die auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Doch was macht eine zeitgemäße Soziale Arbeit aus? Wie wirken sich der Wandel der Lebenswelt auf die Angebote sozialer Dienstleister aus und wie werden sich Bedarfe bei der Klientel durch Urbanisierung und Individualisierung entwickeln? Darüber haben wir mit Birgitta Neumann, Marktfeldleiterin für Unternehmen der Eingliederungs- und der Kinder- und Jugendhilfe bei contec, gesprochen.
Frau Neumann, wie verändern gegenwärtige Entwicklungen wie die Urbanisierung und die Individualisierung die Lebenswelt eines Individuums in unserer Gesellschaft? Welche Bedarfe treten möglicherweise dadurch zutage?
Urbanisierung und Individualisierung ermöglichen es Menschen heute einerseits – wahrscheinlich mehr denn je – ihre Persönlichkeit auszuleben und ihre Lebenswelten nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Das ist erst mal ein positiver Effekt, weil er zu mehr Selbstbestimmung führen kann. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich mit den vielen Wahlmöglichkeiten wohlfühlt, sie als Chance begreift und nicht durch einen vermeintlichen Zwang zu mehr Individualität überfordert ist. Für Menschen, die erst langsam lernen, was Selbstbestimmung heißt, ist unter Umständen eine gezielte Begleitung auf diesem Weg gefragt – ähnlich, wie man es jetzt beispielsweise bei Menschen mit geistiger Behinderung sehen kann, die nach dem Bundesteilhabegesetz viel mehr Entscheidungsfreiheit haben und diese erst nutzen lernen müssen.
Gleichzeitig führt insbesondere die Urbanisierung dazu, dass Menschen stärker auf sich allein gestellt sind und soziale Netzwerke wie z. B. Großfamilien oder dörfliche Gemeinschaften wegbrechen. Ein Indikator hierfür ist z. B. die hohe Zahl an Singlehaushalten in den Städten. Dieses Fehlen an sozialen Ressourcen muss kompensiert werden können. Niedrigschwellige Angebote wie z. B. Nachbarschaftstreffpunkte können hier gegenseitige Unterstützung ermöglichen.
Wie stellen sich Anbieter sozialer Dienstleistungen auf eine stärkere Individualisierung und Urbanisierung ein? Müssen sie ihre Angebote möglicherweise stärker darauf ausrichten?
Das Phänomen der Individualisierung findet sich bereits immer mehr auch in den Angeboten der Sozialen Arbeit wieder. Die meisten Träger sind sich bewusst, dass ihre Klient*innen durch eine hohe Diversität gekennzeichnet sind und versuchen ihre Angebote dementsprechend flexibel zu gestalten. Die Gesetzgebung sieht in der Eingliederungshilfe durch das BTHG ja mittlerweile auch rechtlich bindend eine personenzentrierte Leistungserbringung vor. Auch in der Jugendhilfe zeichnet sich durch die SGB VIII-Reform mehr Partizipation der jungen Menschen ab.
Ich denke aber, dass die Träger sich (noch) nicht ausreichend auf die zunehmende Urbanisierung einstellen, da diese Entwicklungen im Kontext der Sozialen Arbeit bislang nicht ausreichend diskutiert werden. In den städtischen Regionen lässt sich eine Kumulation sozialer Probleme beobachten, wie z. B. gesellschaftliche Segregation, Armut und Drogen- und Alkoholmissbrauch. Seitens der Sozialen Arbeit wird darauf insbesondere mit einer differenzierten Versorgungsstruktur reagiert, die den Großteil an sozialen und gesundheitlichen Bedarfen abdeckt. Bei der aktuellen Differenzierung des Leistungsangebots in der Sozialen Arbeit werden aber immer nur kleine Problembereiche mit den Klient*innen bearbeitet. Besonders deutlich wird dies bei Menschen mit multiplen sozialen Problemlagen, ein Beispiel:
Eine Klientin kann über eine Drogenproblematik mit einer Suchtberatungsstelle sprechen, sich wegen ihrer Schulden Hilfe bei einer Schuldnerberatungsstelle holen, sich bei Problemen in der Erziehung an das Jugendamt wenden und wird dabei ggf. noch von einem bzw. einer gesetzlichen Betreuer*in unterstützt. Die kommunalen oder überörtlichen Leistungsträger arbeiten jedoch sehr separiert. Die Angebote decken – je nach Kostenträger und dem damit verbundenen sozialrechtlichen Auftrag – nur einen kleinen Problembereich ab. Diese Differenzierung und Separierung der Leistungen führt m. E. dazu, dass Menschen nicht ganzheitlich in ihrem Sozialraum wahrgenommen werden. Zwar wird Sozialraumorientierung in den fachlichen Diskursen seit den neunziger Jahren gefordert – in der Praxis bleibt sie hingegen häufig noch eine leere Worthülse. Wünschenswert wäre hier auch die stärkere Einbeziehung Sozialer Arbeit in die Stadtentwicklung. Einen guten Versuch, die unterschiedlichen Leistungen besser aufeinander abzustimmen, sehe ich bei dem neuen Gesamtplanverfahren im Rahmen des BTHG.
Sehen Sie weitere gegenwärtige gesellschaftliche Trends, die dazu führen, dass Träger ihre Angebote überdenken bzw. neue Angebote entwickeln müssen?
Ja, die Vielfalt an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, die neue bzw. veränderte Angebote erforderlich machen, ist enorm. Wir begleiten aktuell schwerpunktmäßig Träger, die ihre Leistungen so ausrichten möchten, dass Sie zu einer inklusiven Gesellschaft beitragen. Im Mittelpunkt steht dann die Frage: Wie können wir es ermöglichen, dass alle Menschen in ihrer bevorzugten Wohnumgebung leben können, ihre bevorzugte Arbeit ausführen und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Angeboten partizipieren können? In diesem Bereich wurde in den letzten Jahrzehnten viel erreicht, gleichzeitig erleben Menschen nach wie vor Ausgrenzungen und Diskriminierungen.
Andere Herausforderungen liegen in der Integration von Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, dem demografischen Wandel, der steigenden sozialen Ungleichheit sowie dem Anstieg von Armut und psychischen Erkrankungen. Diese Aufzählung ließe sich noch fortführen. Es versteht sich von selbst, dass die Pandemie ihr Übriges dazu beiträgt und all diese sozialen Problemlagen verschärft.
Was bedeutet für Sie zeitgemäße Sozialarbeit?
Zeitgemäße Sozialarbeit bedeutet für mich die Abkehr von dem Fürsorgegedanken hin zu einer Begleitung, die der Individualität der Menschen gerecht wird und diese befähigt, ihre eigenen Lebenskonzepte umzusetzen. Dies erfordert eine schnelle und flexible Anpassung an die Lebenswelten der Menschen, eine hohe und breite Methodenkompetenz und vor allem die Verpflichtung, wieder eher eine anwaltliche Funktion in einer Gesellschaft zu übernehmen, in der Ausgrenzung zunimmt. All das gehört ohnehin schon zum Auftrag der Sozialarbeit und dieses Selbstverständnis ist in aller Regel auch vorhanden, aber die Branche muss diese Werte geschlossen und noch lauter vertreten. Mein Appell an die Politik: Spätestens mit der Aufarbeitung der Pandemie brauchen wie eine echte soziale Agenda 2021, die massive Investitionen im sozialen Bereich vorsieht. Menschen müssen niedrigschwellig und ohne große Bürokratie an Hilfen kommen und da sind auch die Kostenträger aufgerufen, zu kooperieren, um die Hilfen so durchlässig wie möglich zu gewährleisten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Text: Cäcilia Jeggle / Marie Kramp© ©william87 - stock.adobe.com
Birgitta Neumann
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