Soziale Innovation als Treiber des Wandels – Prof. Dr. Lisa von der Heydte im Interview
Das 5. Zukunftsforum Soziale Arbeit am 4. und 5. September 2024 in Berlin richtet den Fokus auf die aktuellen Megatrends wie demografischer Wandel, Digitalisierung und Urbanisierung. Sie werden unsere Gesellschaft nachhaltig verändern – eine Entwicklung, die auch die Sozial- und Gesundheitsbranche vor die Frage stellt, wie sie sich aufstellen muss, um für die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein. Wir haben im Vorfeld mit Prof. Dr. Lisa von der Heydte von der Katholischen Stiftungsschulhochschule München gesprochen und sie gefragt, wie Innovationen in der Sozialwirtschaft gelingen und was dabei zu beachten ist.
Frau Prof. Dr. von der Heydte, wie steht es denn derzeit um die Innovationsbereitschaft in der Sozialbranche? Es scheint, dass Fachkräftemangel, fehlende finanzielle Ressourcen und die sich immer schneller verändernde Gesellschaft die Branche zum Umdenken zwingen.
Hinsichtlich der Innovationsbereitschaft unterscheidet sich die Sozialwirtschaft nicht allzu sehr von anderen Sektoren. Letztlich ist Innovationsbereitschaft immer etwas, das stark von Personen abhängt. Gerade in der Sozialwirtschaft ist vielmehr die Innovationsfähigkeit entscheidend. Diese Innovationsfähigkeit ist allerdings sehr stark von der Organisationskultur und -struktur abhängig und die ist in der Sozialwirtschaft oft nicht besonders innovationsfreundlich.
Das hat zahlreiche Gründe – einige davon sind historisch bedingt, andere (finanz-)strukturell, denn Innovation hat oft auch etwas mit Risiko zu tun. Und die Risiko-Aversion, die viele Organisationen im Sozialsektor haben, ist wiederum durch die abhängige Finanzstruktur zwar verständlich, aber gleichzeitig oft auch deren Ursprung. Zugleich ist der Druck, den äußere Umstände wie die hohe Sozialleistungsquote oder die demografischen Herausforderungen auf das System ausüben, im Sozialsektor deutlich höher als in anderen Bereichen – das führt dazu, dass Innovationen derzeit von allen Seiten gepusht werden.
Allerdings ist es wichtig zu verstehen, dass Soziale Innovationen kein Allheilmittel sind. Sie wirken dort, wo bestehende Strukturen noch nicht oder nicht effizient den sozialen oder gesellschaftlichen Herausforderungen begegnen. Sie sollen aber nicht unbedingt bestehende Strukturen ersetzen, sondern ergänzen und stützen.
Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Veränderung. Aber wie wird man „innovativ“, wenn man es bisher nicht war? Wo fängt man an? Was könnten erste Schritte sein?
Einsicht ist in jedem Fall eine große Hilfe und die größte Hürde zu Beginn eines jeden Entwicklungsprozesses. In einigen Innovationsprojekten wird diese Einsicht allerdings nicht von allen gleichermaßen geteilt – manche kommen nie zu der Erkenntnis, dass es eines Umdenkens bedarf. Gleichzeitig erlebe ich auch immer wieder, dass Führungsverantwortliche sich zu große Sorgen darum machen, wie Innovationen in der eigenen Organisation auf- und angenommen werden. Viele Mitarbeitende bewerten Veränderungen positiv als Teil der Organisationsentwicklung und verstehen, dass sie für die Zukunftsfähigkeit der eigenen Organisation notwendig sind.
In meinem Vortrag im September beim „Zukunftsforum Soziale Arbeit“ der contec werde ich zehn konkrete Schritte und Tipps vorstellen, wie man vorgehen kann. Und das auch dann, wenn die Organisationsleitung und die Organisationskultur nicht gerade vor Agilität und Innovationsfreude sprühen. Aber weil Sie konkret fragen „Wo fängt man an?“ − man sollte bei der Organisationskultur beginnen. Es gilt das Zitat von Peter Drucker: „Culture eats strategy for breaktfast“. Wenn die Organisationskultur offen und innovationsfreudig ist, eine positive Fehlerkultur herrscht, man Hierarchiedenken vermeidet, ist das ein guter Nährboden für Innovationen.
Kann man Kultur lernen?
Ja, aber es ist nicht so leicht, wie manche denken, und es gibt wenige Unterfangen im sozialen Sektor, die so langwierig sind – gerade wenn man es mit traditionsreichen Organisationen zu tun hat. Es reicht nicht, an ein paar Workshops teilzunehmen, eine Strategie zu entwickeln und eine Startup-Safari-Tour zu machen. Eine Kulturveränderung muss vorgelebt werden und hängt ganz stark an Einzelpersonen und daran, wie charismatisch und überzeugend diese sind. Man kann beispielsweise beginnen „Inseln“ zu schaffen und diese „Inseln des Neuen und Innovativen“ können Zweifler überzeugen.
Welche Rolle spielt die Führung?
Die Rolle der Führung ist entscheidend und lässt sich in mehrere zentrale Aspekte unterteilen: Besonders wichtig ist es, dass Führungskräfte eine Umgebung schaffen, die Offenheit für Veränderungen und kreatives Denken fördert, und dass sie als Vorbild agieren. Das beinhaltet die Bereitschaft, Risiken einzugehen und Fehler als Lernmöglichkeiten zu betrachten. Eine solche Kultur ermutigt Mitarbeitende, neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren. Außerdem müssen Führungsverantwortliche eine klare Vision und Strategie für Innovationen entwickeln – am besten mit Einbeziehung der verschiedenen Fachexpertisen.
Führungskräfte sollten die notwendigen Ressourcen – vor allem auch zeitliche – bereitstellen, um Innovationen zu ermöglichen. Das ist besonders schwierig in einem Sektor, der von finanzieller und personeller Ressourcenknappheit geprägt ist. Durch Kreativität, Charisma und partizipative Entscheidungsprozesse kann man aber auch in einem ressourcenknappen Umfeld vieles bewirken. Netzwerke und Kooperationen mit anderen Organisationen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen wirken ebenfalls unterstützend.
Wie nimmt man die Mitarbeitenden in diesem Prozess mit?
Vor allem durch ganz viel Kommunikation, partizipative Prozesse und Transparenz: regelmäßige, transparente Kommunikation über die Ziele, Fortschritte und Herausforderungen des Innovationsprozesses. Mitarbeitende sollten wissen, warum Innovation wichtig ist und welche Rolle sie dabei spielen und dass sie durch Feedback die Möglichkeit haben mitzugestalten. Man sollte Mitarbeitende in relevante Entscheidungsprozesse einbeziehen und ihnen Verantwortung übertragen, zum Beispiel Plattformen oder Tools bereitstellen, über die Mitarbeitende ihre Ideen und Vorschläge einreichen können.
Dann das schon mehrfach angesprochene Thema Kultur: Eine Organisationskultur, in der Fehler als Lernmöglichkeiten angesehen und nicht sanktioniert werden, ist wichtig, um Mitarbeitende zu ermutigen, Risiken einzugehen und kreativ zu sein. Und wenn etwas gut funktioniert, sollte man auch Wertschätzung und Anerkennung zeigen und Erfolge und innovative Ideen feiern, um die Motivation hochzuhalten. Das sind nur einige erste Ideen.
Bewusst provokant formuliert: Lassen die konservativen Strukturen der großen Wohlfahrtsverbände Innovationen überhaupt zu?
Absolut. Viele Innovationen sind in den Verbänden geboren und werden es täglich, denn die Verbände sind nah dran an den drängendsten Herausforderungen der Menschen. Das ist der Ausgangspunkt jeder Innovation – die Nähe zu und das tiefe Verständnis für ein Problem.
Was den von Ihnen angesprochenen Verbänden oft nicht so leicht fällt ist die Integration von Innovationen und deren Skalierung – auch wenn man denkt, dass die Skalierung von Innovationen hier leichtfallen sollte, stehen die verbandlichen Organisationsstrukturen und die Entscheidungswege häufig im Weg. Auch die sogenannte „Entkopplung der Transaktionsbeziehung“ ist in den Wohlfahrtsverbänden nicht selten ein Hemmnis für Innovationsprozesse – während es in der freien Wirtschaft zu jeder Transaktion ein direktes Kundenfeedback durch Kauf- und Zahlverhalten gibt, fällt dieses Feedback in der Sozialwirtschaft oft weg. Dadurch entfällt ein wichtiger Innovationsmotor und -beschleuniger.
Ein nicht unerheblicher Faktor, der Innovationen im sozialen Sektor hemmt, sind sicherlich auch fehlende Finanzierungsmöglichkeiten. Es gibt vermutlich keine entsprechenden Fördermittel, oder?
Doch, es gibt viele großartige Möglichkeiten. Ich denke hier beispielsweise an hybride innovative Finanzlösungen von Social Venture Capital bis Mezzanine-Kapital. Gleichzeitig gab es noch nie so viele Fördermöglichkeiten für Soziale Innovationen wie heute. Im September hat das Bundeskabinett die Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen beschlossen und nun werden nach und nach die Maßnahmen und Förderungen bereitgestellt. Gerade erst wurde die bisher größte Förderung mit 110 Millionen Euro vorgestellt: Ab Anfang August 2024 können alle gemeinwohlorientierten Unternehmen Anträge für das Förderprogramm „Nachhaltig wirken – Förderung Gemeinwohlorientierter Unternehmen“ stellen.
Können Sie Beispiele für erfolgreiche Innovationen im Sozialsektor nennen?
Wie gesagt: Der Sektor war immer und ist immer noch innovativ – vieles, was aus dem Sektor kommt, nehmen wir heute nicht mehr als Innovation wahr, beispielsweise den Hausnotruf oder Essen auf Rädern. In den letzten Jahren ist u.a. die Telemedizin dazugekommen. Bei Innovationen im Sozialsektor muss man besonders unterscheiden zwischen Intrapreneurs und Entrepreneurs – die einen gründen innerhalb einer bestehenden Organisation, die anderen im freien Markt.
Beispiele für Intrapreneurs sind z.B. die Generationsbrücke Deutschland, hier hat Horst Krumbach aus einer bestehenden Organisation heraus eine tolle generationenverbindende, vielfach ausgezeichnete Innovation gestartet. Oder das Gewächshaus M der Malteser Deutschland – ein Social Innovation Accelerator für die Innovationen aus dem eigenen Haus.
Beispiele für Entrepreneurs sind Wheelmap, eine Online-Karte, die rollstuhlgerechte Orte weltweit anzeigt, oder Social-Bee – das ist quasi ein Social-Personaldienstleiter-Startup, das darauf abzielt, Geflüchteten den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern und dadurch ihre Integration in die Gesellschaft zu fördern.
Das sind spannenden Projekt-Beispiele, die motivieren, sich selbst an das Thema Innovation heranzuwagen. Wie befähigen Sie Ihre Student*innen an der Katholischen Stiftungshochschule München, das Soziale und das Unternehmerische zusammenzudenken? Sicher ist es für viele erst einmal ungewohnt, diese beiden unterschiedlichen Welten miteinander zu verbinden?
Das ist nur im ersten Moment schwierig – sobald deutlich wird, woher die Soziale Arbeit kommt, nämlich aus der Wahrnehmung und dem aktiven Entgegnen eines sozialen Missstands in unterschiedlichsten Gruppierungen und (Rechts-)Formen, zum Beispiel kirchlichen, nachbarschaftlichen oder ähnlichen, ist das kein Widerspruch mehr. Ich zitiere hier gerne Monica Nandan: „The roots of social work are in innovative and entrepreneurial thinking“.
Es ist wichtig, dass die Studierenden sich selbst Herausforderungen aussuchen, die sie umtreiben, und dass sie den Mut fassen, aktiv zu werden. Was viele begeistert und fasziniert, ist, dass es sich bei Social Entrepreneurship um eine Methode, eine Herangehensweise an soziale Herausforderungen handelt. Es geht also um ein Mittel zur Erreichung eines sozialen Zwecks. Ich arbeite in den Seminaren viel mit Kreativmethoden und mit Beispielen erfolgreicher Intrapreneurs oder Entrepreneurs, mit denen sich die Studierenden identifizieren können.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Professor Dr. von der Heydte!
Zur Person:
Lisa von der Heydte (35) ist seit 2021 Professorin für Management in der Sozialwirtschaft und Prodekanin der Fakultät für Soziale Arbeit und Entrepreneurship an der Katholischen Stiftungsschulhochschule München. Ihren Schwerpunkt bildet der Bereich Soziale Innovationen – sie ist Gründerin des Entwicklungsprojekts Social Innovation Campus und engagiert sich außerdem in der Katastrophenhilfe. Dort hat sie die Organisation Social Impact Partners GmbH mit aufgebaut, eine Risikostrategieberatung, die NGOs in Katastropheneinsätzen zu den Themen Risikomanagement und innovative Finanzierungen unterstützt.
Redaktion: Annette Borgstedt
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Birgitta Neumann
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