„Das Kostenkorsett lässt der sozialen Arbeit keine Freiräume“ – Dr. Ulrich Schneider im Interview
Edit der Redaktion: Dieses Interview ist im Vorfeld zum 2. Zukunftsforum Soziale Arbeit 2020 entstanden. Wir haben uns entschieden, den Text sprachlich zu aktualisieren und die Inhalte zu re-posten, da das Thema des Vortrags von Dr. Ulrich Schneider heute genauso relevant ist wie im Jahr 2020: „Ein Beruf, viele Erwartungen: Soziale Arbeit in der Multiperspektivität“. Wir sprachen im Vorfeld der Veranstaltung mit ihm über den Wert der Sozialen Arbeit und – passend zu seinem damals neu erschienenen Buch – das Dilemma der Ökonomisierung von Menschlichkeit.
Herr Dr. Schneider, wenn wir über den Wert der Sozialen Arbeit sprechen, was kommt Ihnen da als Erstes in den Sinn?
Dr. Ulrich Schneider: Der Mensch. Wenn es in irgendeiner Profession oder Branche tatsächlich um den Menschen geht, dann in der Sozialen Arbeit. ,Soziale‘ Arbeit ist es ja gerade deshalb, weil der Mensch hier immer ganzheitlich betrachtet wird. Man kann den Menschen nur verstehen, wenn man ihn ganzheitlich wahrnimmt und zwar auch in seinem ökologischen Umfeld. Nur dann kann Soziale Arbeit erfolgreich sein. Das macht diesen ganz besonderen Wert der Sozialen Arbeit aus.
Der Begriff „Wert“ ist ja in gewisser Weise doppeldeutig: Man kann von einem ideellen Wert sprechen, ähnlich wie Sie es gerade getan haben, und auch von einem finanziellen. Sehen Sie da einen Zusammenhang oder eher ein Dilemma?
Dr. Ulrich Schneider: Das ist vor allem ein Dilemma, denn im Grunde handelt es sich bei dieser Doppeldeutigkeit um einen Widerspruch. Wir haben es, wenn wir vom Wert der Sozialen Arbeit sprechen, mit Qualitäten zu tun. Das Vertrauen als Grundlage der sozialarbeiterischen Beziehung, die kurative Arbeit und Ziele wie Emanzipation und Befähigung sind immer Qualitäten und Werte. Der finanzielle Wert – und genau das ist das Dilemma – versucht diese Qualitäten in Quantitäten zu übersetzen. Die Einzigartigkeit einer therapeutischen, sozialarbeiterischen oder pflegerischen Beziehung zu einem Menschen muss verallgemeinert und abstrahiert werden, um in Geld und Zahlen übersetzt werden zu können. In der Praxis bedeutet das, dass aus einem komplexen Vorgang, in dem sowohl die pflegebedürftige Person als auch das Pflegepersonal körperlich und emotional gefordert sind, eine Verrichtung gemacht wird, die in Geld berechnet, mit einem Preis versehen werden kann. Diese Quantifizierung verlangt, dass wir uns dem Wertvollen der Sozialen Arbeit nicht mehr stellen können. Das ist das große Problem, vor dem wir in der Sozialen Arbeit schon seit Jahren stehen.
Gerade auch im Hinblick auf dieses Spannungsfeld wird zum einen erwartet, zurecht, dass die Soziale Arbeit sich mehr personenzentriert organisiert, dass es um Teilhabe geht und nicht mehr um Fürsorge, und zum anderen soll das Ganze beispielsweise in der Eingliederungshilfe laut BTHG kostenneutral passieren. Ist das der Widerspruch, den Sie meinen?
Dr. Ulrich Schneider: Es geht zum einen um Kostenneutralität, das kann schon nicht klappen. Zum anderen beziehe ich mich vor allem auf die Art, wie abgerechnet wird. Nehmen Sie eine ganz banale Erziehungsberatung – soweit diese banal sein kann. In einer Beratungssituation stellt man fest, dass das Kind Schwierigkeiten in der Schule hat, Verhaltensauffälligkeiten zeigt oder die Kommunikation mit den Eltern nicht mehr funktioniert. Wie soll ein Pädagoge oder eine Pädagogin feststellen, wie lange für diese spezifische Beratungssituation gebraucht wird? Es kann sein, dass sich die Probleme schnell lösen lassen. Es kann aber auch sein, dass man sehr langwierige Prozesse eingehen muss. Diese Situation passt einfach nicht in Kostenschemata, in denen dann Fachleistungsstunden in bestimmten Zahlen abgerechnet werden können.
Könnten Sie sich vorstellen, wie eine Alternative dazu in der Praxis aussehen könnte?
Dr. Ulrich Schneider: Es mag seltsam klingen, aber wir waren mit den sogenannten Selbstkostenblättern früher weiter – als in der Pflege noch gefragt wurde, wie viel Personal eine Einrichtung im Jahr braucht und nutzt. Es wurde zwar hart gefeilscht, aber es war auch das Vertrauen da, dass eine gute Arbeit herauskommt. Ebenso ist es bei einer Familienberatungsstelle. Es wurde ausgehandelt, wie viele Erzieher*innen und Sachbearbeiter*innen eine Beratungsstelle brauchte und dann wurde gemeinsam ein Plan entwickelt. Das ist etwas völlig anderes als Fachleistungsstunden oder dergleichen. Es waren Budgets und Ziele, die mit der Kommune zur Gestaltung des Gemeinwesens vereinbart wurden.
Das Vertrauen muss natürlich gerechtfertigt sein, deswegen habe ich überhaupt nichts gegen Transparenz und Kontrollen. Das ist die Kehrseite, die man dann natürlich auch bedienen muss.
Es geht darum, dass man Angebote vorhält, es geht aber auch darum, dass man Innovationen und Experimente zulässt. Indem ich so streng das Kostenkorsett ziehe, dass überhaupt keine Freiräume mehr da sind, in dem Moment töte ich Innovationen und Weiterentwicklungen in der sozialen Arbeit.
Würden Sie der Kritik zustimmen, dass Soziale Arbeit zu wenig wertgeschätzt wird oder halten Sie das manchmal für Jammern auf hohem Niveau?
Dr. Ulrich Schneider: Dem stimme ich aus vollem Herzen zu. Wenn ich mir auf der einen Seite anschaue, was Pflegekräfte und Erzieher*innen verdienen oder welche Selbstausbeutung bei Sozialarbeiter*innen geläufig ist, wenn ich auf der anderen Seite aber meinen Blick auf den Weltwirtschaftsgipfel in Davos richte, bekomme ich Dinge einfach nicht mehr zusammen. Dann verstehe ich nicht, dass diejenigen, die die höchste Verantwortung in ihrem Job tragen, indem sie sich für die Schutzbedürftigsten einsetzen, diejenigen sind, die am wenigsten verdienen.
Gerade hatten Sie schon das Dilemma einer Arbeit, die man eigentlich nicht in Geld übersetzen kann, als Herausforderung angesprochen. Sehen Sie weitere große Herausforderungen für die Soziale Arbeit in der nächsten Zukunft?
Dr. Ulrich Schneider: Wir müssen uns Freiräume erhalten, während wir von zwei Seiten unter Druck gesetzt werden. Auf der einen Seite besteht eine Diskussion um eine Art Re-Kommunalisierung, das heißt die stärkere Verstaatlichung Sozialer Arbeit. Für uns als Paritätischer Wohlfahrtsverband, als freie Wohlfahrtspflege, ergeben sich daraus natürlich große Bedenken, weil wir der festen Überzeugung sind, dass Soziale Arbeit nur durch die Einbettung in eine lebendige Bürgergemeinschaft wirklich gut ist.
Auf der anderen Seite wird der Druck von den Gewerblichen ausgeübt, Soziale Arbeit sektoral zu beschneiden. In diesem Zusammenhang besteht die große Herausforderung, uns zu behaupten. Offensiv wird dies nur gelingen, wenn wir deutlich machen, dass die gemeinnützige und gemeinwohlorientierte Organisation eine echte Alternative zu einem Wirtschaftssystem ist, das in den letzten Jahren ganz offensichtlich an seine Grenzen in der Versorgung der Bevölkerung gestoßen ist.
In Ihrem Keynote-Thema wird es ja auch um diese Multiperspektivität gehen, bei der von vielen Seiten Erwartungen an die Soziale Arbeit gestellt werden, denen man gar nicht gerecht werden kann. Was würden Sie sagen, wem ist die Soziale Arbeit keine Rechenschaft schuldig?
Dr. Ulrich Schneider: Die Soziale Arbeit ist jedem Rechenschaft schuldig, weil alle Akteure, die diese Gesellschaft institutionell mittragen, vom Automobilhersteller bis zur kommunalen Verwaltung, immer dem anderen Rechenschaft schuldig sind. Wir sollten alle dem Gemeinwohl verpflichtet sein. In einer demokratischen Gesellschaft, die für mich den Hintergrund darstellt, darf sowohl Wirtschaften als auch Soziale Arbeit kein Selbstzweck sein. Wir sind eine Gemeinschaft. Das heißt, wenn wir den gewerblichen Sektor zur Rechenschaft ziehen, dann müssen wir auch gegenüber diesem Rechenschaft ablegen.
Auch wenn es heißt, die Soziale Arbeit kostet zu viel?
Dr. Ulrich Schneider: In dem Fall haben wir es ja besonders einfach mit der Rechenschaft. Wir können doch sehr leicht nachweisen, dass die Soziale Arbeit letztlich der Kitt ist, der diese Gesellschaft überhaupt zusammenhält. Das unterscheidet uns von VW, von Daimler, von Glücksspielbetreibern oder anderen, die die Gesellschaft eher auseinandertreiben. Deswegen ist es sehr vordergründig, wenn uns unterstellt wird, wir würden zu viel Geld kosten. Das sind diejenigen, die immer nur an ihre eigenen Gewinne denken, weil ein Volksvermögen immer nur einmal aufteilbar ist. Ich würde mir wünschen, dass man diese Institutionen stärker in die Verantwortung nimmt, und deutlich macht, dass unsere Gesellschaft vor allem Lebensstandort ist, woraus sich Pflichten für alle ergeben.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Schneider!
Interview: Marie Kramp/Lisa Ringele © Der Paritätische GesamtverbandBirgitta Neumann
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