Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession: „Wir dürfen uns nicht auf das doppelte Mandat beschränken“

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
Dienstag, 25 April 2023 11:30

Edit der Redaktion: Dieser Beitrag über Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession  ist im Zuge des 2. Zukunftsforums Soziale Arbeit 2020 zum ersten Mal erschienen. Das Thema hat an Relevanz bis heute nicht verloren und deshalb hat die Redaktion nur einige wenige sprachliche Anpassungen vorgenommen und ihn aktualisiert.

Soziale Arbeit findet zunehmend im Spannungsfeld von ökonomischem Druck und der Würde der zu betreuenden Menschen statt. Diese lässt sich aber schwerlich in Geldwert übersetzen. Das hat uns auch Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, in einem Interview erläutert. Anfang der 1990er Jahre entwickelte Silvia Staub-Bernasconi den Ansatz der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession, der bis heute nicht unumstritten ist, aber ein Ausweg aus dem Dilemma sein könnte. Was der Ansatz beinhaltet und wie es um das aktuelle Professionsverständnis der sozialen Arbeit bestellt ist, dazu haben wir mit Christine Lohn, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e.V. (BAG EJSA), gesprochen.

Frau Lohn, spätestens mit der UN-BRK, die ja eine Menschenrechtskonvention ist, und dem BTHG als deutschem Versuch der Umsetzung dieser, wurden Menschenrechte auch aus gesetzgeberischer Sicht in den Fokus der Sozialen Arbeit gerückt. Was beinhaltet der Ansatz Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession?

Christine Lohn

© Christine Lohn

Christine Lohn: Soziale Arbeit, die als Profession wahr- und ernstgenommen werden will, darf sich nicht auf das doppelte Mandat beschränken. Die Verantwortung gegenüber Adressat*innen ebenso wie gegenüber gesellschaftlichen Instanzen als Auftraggeber*innen ist unbenommen – aber sie beinhaltet ein Machtgefälle, das im Ernstfall dazu führen kann, dass Sozialarbeitende nicht mehr beides angemessen im Blick haben können bzw. dürfen bzw. sollen, aber auch wollen. Soziale Arbeit als Profession zu verstehen heißt, sie als Handlungswissenschaft zu definieren und damit ein drittes Mandat zu konstruieren:

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession verfügt über:

  • eine wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsbasis,
  • eine eigene Ethik (Berufskodex) und
  • eine Legitimationsbasis, die über konkrete Aufträge hinaus ein selbstbestimmtes Arbeiten ermöglicht.

Die Menschenrechte als (im Berufskodex beschriebene) Legitimationsbasis bieten die Möglichkeit, über den konkreten Auftrag hinaus eine übergeordnete Perspektive einzunehmen und sich damit möglicher Machtinteressen und Zumutungen oder gar der Vereinnahmung durch illegitime Forderungen (sowohl durch die Adressat*innen als auch durch die Auftraggeber*innen) begründet zu erwehren. Sie sind damit Bezugsrahmen, Argumentations- und Analyseinstrument und Orientierungshilfe. Und nicht zuletzt stehen mit dem Menschenrechtsschutzsystem Instrumente zur Verfügung, deren Nutzung den Adressat*innen angeraten und bei der sie professionell begleitet werden können.

Soziale Arbeit ist politisch, sie muss politisch sein, denn sie ist Akteurin in gesellschaftlichen Prozessen und verfügt über spezifisches Wissen über soziale Problemlagen und daraus resultierende gesellschaftliche Verwerfungen. Ohne dieses Wissen können politische Entscheidungen nicht sachgerecht getroffen werden. Sieht sich Soziale Arbeit als Profession den Menschenrechten verpflichtet, muss sie alle ihre Handlungen an diesem Maßstab messen.

Der Ansatz Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession stammt aus den frühen 1990er Jahren, ist also nicht brandneu. Hat sich der Status Quo einem solchen Verständnis Ihrer Erfahrung nach angenähert?

Welcher Status Quo? Das Grundsatzproblem ist aus meiner Sicht immer noch, dass es kein gemeinsames Professionsverständnis Sozialer Arbeit gibt. Eine Gynäkologin, ein Proktologe und eine Orthopädin machen völlig unterschiedliche Sachen – aber sie eint, dass sie sich als Ärzt*innen definieren. Menschen, die einen der zig Studiengänge mit „sozial“ im Titel studiert haben, können sich bis heute nicht darauf verständigen, dass sie zuerst Sozialarbeitende sind und dann erst z. B. Hilfen zur Erziehung, Jugendfreizeitarbeit, Gefährdetenhilfe oder Jugendsozialarbeit an Schulen machen. Oder der ewige Streit, ob man jetzt Sozialarbeiter*in oder Sozialpädagog*in ist. Einzelne Handlungsfelder, wie z. B. die Jugendverbandsarbeit oder auch die Kindertagesbetreuung, würden sich ja noch nicht mal der Sozialen Arbeit zuordnen.

Soziale Arbeit hat sich in vielen Bereichen zur Dienstleisterin abwerten lassen. Für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet das z. B., dass sie ihre Grundsätze außer Kraft setzt (Freiwilligkeitsprinzip als Dienstleisterin im schulischen Ganztag) oder sich denen anderer Rechtsnormen unterordnet (Jugendberufshilfe in Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit).

Ich freue mich über jeden Träger und alle Kolleg*innen, die sich unter diesen Bedingungen den Geist des SGB VIII und ein Professionsverständnis in ihrer Arbeit erhalten können. Aber es zerreißt diejenigen, die unter solchen Bedingungen professionell arbeiten wollen, und häufig liegt dann eben die Priorität auf der konkreten Begleitung der Adressat*innen und nicht in der politischen Arbeit.

In welchen Punkten wird der Ansatz der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession kontrovers diskutiert?

Die Menschenrechte als Legitimationsbasis zu definieren, ist kein Konsens in der Fachszene, auch wenn sich der Ansatz von Staub-Bernasconi als (eine) Theorie Sozialer Arbeit durchgesetzt hat. Völkerrecht ist für die meisten Menschen sehr abstrakt, wer sich nicht näher mit dem Thema beschäftigt, weiß z. B. nicht, was die Ratifizierung einer Konvention durch den Staat bedeutet und wie sich das in innerstaatlichem Recht niederschlägt. Die Menschenrechte als Bezugsrahmen für die eigene Arbeit (und da geht es nicht nur um die Soziale) zu nehmen, bedeutet ja auch, die staatliche Umsetzungspraxis im Blick zu haben und auf Missstände zu verweisen. Das ist konkrete politische Arbeit, kein Mainstream.

Der Ansatz geht davon aus, dass Soziale Arbeit sich zu stark kritisieren lässt und sich ein bescheidenes Selbstverständnis diktieren lässt. Staub-Bernasconi leitet das historisch her. Wieso ist das immer noch so?

Ich verstehe Frau Staub da etwas anders: Sie hat kein Problem mit Kritik, sie ist ein sehr streitbarer Mensch. Was sie kritisiert, ist der eklatante Mangel an Selbstbewusstsein bei Sozialarbeitenden mit Blick auf ein eigenes Professionsverständnis, der dazu führt, dass sie sich von anderen sagen lassen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben. Soziale Arbeit wird (immer noch) überwiegend gelehrt von Vertreter*innen anderer Professionen und sie wird ausgeübt im staatlichen Auftrag. Sozialarbeitende sind in der Regel (professionell) reflektierte Menschen, sie hinterfragen sich und ihre Arbeit – das ist eigentlich ein Qualitätsmerkmal, das ich mir auch in anderen Berufsgruppen wünsche. Gleichzeitig lassen sich Sozialarbeitende zu Dienstleister*innen degradieren: Ich erinnere mich an einen erhitzten Diskurs mit Frau Staub, in dem sie an einer Stelle aufgebracht sagte: „Case-Management ist keine Soziale Arbeit!“ Wir verkaufen es aber als solche, weil wir dafür bezahlt werden und für anderes eben nicht. Nichts gegen strukturierte Verfahren, die braucht Soziale Arbeit auch. Aber sie soll doch bitte trotzdem zuerst den Menschen sehen und nicht dessen wirtschaftlich am besten verwertbare Eigenschaften.

Will heißen: Die Kolleg*innen reflektieren professionell und erkennen regelmäßig, dass sie Dinge tun, die sie nicht tun sollten und/oder nicht in der Qualität, die ihrem professionellen Anspruch entspricht. Und zwar, weil der Auftrag ein anderer ist, die Ressourcen nicht genügen, der Projektzeitraum begrenzt ist… Sie tun es aber trotzdem und sind nicht laut (genug), um politische Veränderungen herbeizuführen.

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession hat auch ein Mandat für strukturelle Veränderungen – und das geht deutlich über die konkrete Arbeit mit den Adressat*innen hinaus. Damit stecken Sozialarbeitende (die in der Regel ihren Beruf eben nicht frei ausüben, sondern angestellt sind) in einem Dilemma, denn sie sind Mittel- und Dienstgeber ebenso verpflichtet wie den Adressat*innen. Einen Arbeitsauftrag abzulehnen, weil er wider das Professionsverständnis ist, kann auch zum Verlust des Arbeitsplatzes führen – und für den Träger dazu, nicht mehr marktfähig zu sein. Weil es genug andere gibt, die den Auftrag trotzdem annehmen bzw. das nach Kriterien der Professionalität erstellte Angebot im Ausschreibungsverfahren deutlich unterbieten.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Lohn!

 

Interview: Marie Kramp
© Monkey Business/ Adobe Stock

Birgitta Neumann

Birgitta Neumann Portratit

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