Selbstgesteuerte Teams in der ambulanten Pflege – attraktiv, effizient und kundenorientiert
Selbstgesteuerte oder agile Teams sind „der letzte Schrei“. Ein Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel ist Agilität zwar nicht, aber der Erfolg des Buurtzorg-Modells aus den Niederlanden z. B. zeigt: Selbstgesteuerte Teams sind auch in der ambulanten Pflege eine gute Möglichkeit, Ihren Betrieb agil aufzustellen und die Mitarbeiterbindung und Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Wir zeigen Ihnen, was Sie beim Wandel vom klassischen hierarchischen System hin zu selbstgesteuerten Teams beachten sollten.
Was bedeutet selbstgesteuertes Arbeiten in der ambulanten Pflege?
„Selbstgesteuertes Arbeiten bietet sich in der ambulanten Pflege schon deshalb an, weil die ohnehin vorhandene Selbstständigkeit der einzelnen Mitarbeitenden und damit einhergehende Strukturen bereits eine gute Basis für einen solchen Change bilden“, sagt Ute Cichos, Managementberaterin bei contec. Ute Cichos hat selbst jahrelang einen Pflegedienst geleitet, der aus selbstgesteuerten Teams bestand. Die Mitarbeitenden in selbstgesteuerten Teams übernehmen nicht nur die Leistungen beim Kunden vor Ort, sondern auch Verwaltungsaufgaben und agieren im Rahmen der kollegialen Beratung. „Damit haben die Mitarbeitenden einen größeren Entscheidungsrahmen und können sich und ihre Arbeit selbst organisieren. Die Verantwortung und die Mitbestimmung geben den Pflegekräften ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, das ist ein ungemein wichtiger Faktor, um zufrieden im Job zu sein“, so Ute Cichos. So obliegt ihnen die Planung von Einsätzen und Touren genauso wie das Pflegeprozessmanagement inklusive der Abstimmung mit den Patient*innen über die Passung der Pflegeleistungen. Die Pflegekräfte übernehmen die Absprache mit Angehörigen sowie den Kontakt zu Haus- und Fachärzt*innen oder weiteren Professionen. Auch das Pflegegrad- und Medikamentenmanagement kann in die Verantwortung der Teams gegeben werden. Mit einem größeren Handlungsspielraum steigt aber nicht nur der Leistungsumfang – sondern auch die Verantwortung.
Dem ,Mehr‘ gerecht werden
Die Mitarbeiterzufriedenheit ist in selbstgesteuerten Teams in der Regel höher als in hierarchischen Strukturen, obwohl die einzelnen Mitarbeitenden deutlich mehr Verantwortung und Aufgaben jenseits der Pflege wahrnehmen müssen. „Gerade dieses ,Mehr‘ an Verantwortung empfinden viele aber als sinnstiftend. Selbstwirksamkeit, Handlungsspielraum und Autonomie, Unterstützung durch Kolleg*innen und Vorgesetzte sowie wertschätzende Führung sind Komponenten eines selbstgesteuerten Teams, die maßgeblich die Personalbindung sowie die Qualität der Leistungserbringung steigern“, betont Ute Cichos. Das ,Mehr‘ an Aufgaben hingegen könne nur bewältigt werden, wenn die Teams sich bei der Personaleinsatzplanung entsprechende Freiräume dafür schaffen. „Das gelingt am besten mit dem System der Bezugspflege“, empfiehlt die Managementberaterin: Allen Mitarbeitenden werden feste Kund*innen zugeordnet und es gibt entsprechende Vertretungsregeln. Die Einsatzplanung wird zu einer Herausforderung, die gerade zu Beginn das Coaching und die Begleitung der Führungskraft benötigt. Ein weiterer Tipp der Expertin: „Es hilft, wenn es für bestimmte Aufgaben (z. B. das Wundmanagement) in jedem Team eine Expertin gibt, die jenseits der Bezugspflege für diesen Bereich zuständig ist.“
Die Rolle der Führungskraft
Im Kern geht es beim selbstgesteuerten Team um die Idee, dass jedes Organisationsmitglied Führungsverantwortung übernehmen kann. Der Change hin zu einem selbstgesteuerten Team ist damit nicht nur eine kulturelle Veränderung für die Mitarbeitenden, sondern auch für die Pflegedienstleitung, denn er setzt ein neues Führungsverständnis voraus: Eines, das auf Vertrauen basiert und die Selbstständigkeit der Mitarbeitenden fördert. Ute Cichos sieht die Aufgaben der Führungskraft jenseits der Pflege am Kunden: „Führungskräfte geben Verantwortung ab und agieren stattdessen als fachliche Berater*innen und Coaches, behalten den Gesamtüberblick, machen Vertrieb, übernehmen Pflegevisiten und unternehmen gezielt Besuche und Zufriedenheitsabfragen bei den Kund*innen. Sie managen den Dienst jenseits der täglichen Pflege und müssen darum unbedingt von dieser freigestellt sein.“
Der Mensch im Mittelpunkt
Neben dem Ziel der Arbeitgeberattraktivität verfolgt der Change zum selbstgesteuerten Team ein weiteres primäres Ziel: Die Personenzentrierung in der ambulanten Pflege. Bevor Sie die Strukturen eines selbstgesteuerten Teams etablieren, gilt es deshalb, eine Haltungsänderung in der Organisation zu durchleben und ein Verständnis für Personenzentrierung zu schaffen. Ute Cichos fasst das so zusammen: „Es geht bei der Umstellung zum selbstgesteuerten Team um zweierlei: zum einen um eine personenzentrierte Leistungserbringung bei den Kund*innen und zum anderen um personenzentrierte Führung der Mitarbeitenden.“ Dazu sind zwei Aspekte maßgeblich:
- Die Umstellung von einem Top-Down-Führungs- zu einem kreisförmigen Rollenmodell
Die klassische Hierarchie-Pyramide mit dem Top-Management an der Spitze, dem operativen Management in der Mitte und der Basis der Mitarbeitenden lässt nicht nur wenig Freiraum für die Entfaltung der Teams. Sie missachtet auch den wesentlichen Faktor, um den es bei der ambulanten Pflege gehen soll: die Kund*innen. Deshalb bietet sich ein kreisförmiges Rollenmodell an, das die Kund*innen und deren Erlebnis im Zentrum hat. Um diese herum ordnen sich erst die multiprofessionellen Mitarbeitenden, dann die operative Führung und außen das Top-Management an. So stellen Sie sicher, dass alle Ebenen sich vor allem um eines „drehen“: das Wohl der Kund*innen und deren Bedarfe und Bedürfnisse.
- Verständnis für personenzentrierte Pflege bei Führung und Mitarbeitenden
Personenzentriert heißt, den Patienten oder die Patientin als Expert*in für die eigene Pflege anzuerkennen, wertfrei zu beobachten und objektiv zu dokumentieren und Bedarfe zu erheben. Eigene Interpretationen über das, was der eigenen Meinung nach gut für die Kund*innen ist, haben in der Pflegedokumentation und der Bedarfsermittlung nichts zu suchen. Es geht um eine Haltungsänderung und darum, zu verstehen, welche Angelegenheiten die eigenen und welche die der Kund*innen sind. Es geht nicht zwangsläufig darum, aufwändig ein Wertegerüst des Trägers zu erarbeiten, sondern die eigenen Werte so auszurichten, dass die Kund*innen mit ihren Werten dort hineinpassen. Eine solche Haltungsänderung ist Voraussetzung für die strukturelle Etablierung selbstgesteuerter Teams.
Bevor es losgeht…
Die Umstellung auf selbstgesteuerte Teams bedeutet viel kulturelle und organisatorische Arbeit für alle Beteiligten. Und der Erfolg ist nicht garantiert. Es empfiehlt sich deshalb, die Umstellung sukzessive durchzuführen, ggf. mit einem Modell- oder Pilot-Team zu starten, das entsprechende Ambitionen zeigt. Ute Cichos empfiehlt außerdem, vor der Umstellung Mitarbeiterbefragungen durchzuführen. „Eine systematische Befragung vorab kann z. B. zu Tage fördern, ob es bei Mitarbeitenden besondere Interessen oder Stärken gibt, die sie als Expert*innen in das Team einbringen können. Und sie machen transparent, ob ein Team sich für die Selbststeuerung überhaupt eignet.“ Bereits der Prozess der Umstellung muss mit der vollen Partizipation der betroffenen Mitarbeitenden ablaufen, denn genau darum geht es – Partizipation, Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung.
Text: Marie Kramp© goodluz/ Adobe Stock