„Nur ein Zusammenspiel von Rehabilitation und Produktion sichert Teilhabe in WfbM“ – Hans Horn im Interview
Innerhalb der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) variieren die Aufgaben und damit auch die Anforderungen an die Organisation teils stark. So stellt sich z. B. die Frage, wie das (vermeintliche) Spannungsfeld von Inklusion, Rehabilitation und Produktion in WfbM gelöst und stattdessen in ein erfolgreiches Zusammenspiel umgewandelt werden kann. Der Branchenexperte Hans Horn sieht in wirtschaftlichem Handeln und Inklusion keinen Widerspruch, im Gegenteil: Für ihn ist die Wirtschaftlichkeit in der Produktion notwendige Voraussetzung für die Sicherung der Teilhabe an Arbeit.
Inwieweit verursacht in Ihren Augen die Gleichzeitigkeit von Inklusion, Rehabilitation und Produktion in WfbM ein Spannungsverhältnis und wird dies durch das BTHG verschärft?
Auf den ersten Blick besteht in dieser Gleichzeitigkeit von sehr unterschiedlichen Anforderungen wie Rehabilitation und Produktion in WfbM ein Zielkonflikt. Die Überlegung, auch Menschen mit sehr hohen, komplexen Hilfebedarfen zu unterstützen und zu fördern und sich gleichzeitig wirtschaftlich am freien Markt zu betätigen, wirft weitreichende Fragen auf. Ich würde zur Beantwortung der Frage gerne einen Schritt zurückgehen und auf die Kernidee von WfbM blicken: Die Grundmotivation für die Etablierung von Werkstätten in der Sozialgesetzgebung bestand darin, auch jenen Menschen, die Aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit seinen wenig inklusiven Rahmenbedingungen nicht zur Verfügung stehen, eine Teilhabe an sinnstiftender, wirtschaftlich verwertbarer Arbeit zu ermöglichen. Damit ist dieser Zielkonflikt also sozusagen Teil der „Werkstatt-DNA“. Es braucht den geeigneten rehabilitativen, pädagogischen Rahmen, um Teilhabe an Arbeit auch für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, die von den Mechanismen der freien Marktwirtschaft ziemlich gnadenlos ausgegrenzt werden. Aber ohne geeignet aufbereitete, marktüblich kalkulierte Produktions- oder Dienstleistungsaufträge kann der Gesamtauftrag nicht umgesetzt werden. Deshalb gehört das tägliche, möglichst gleichberechtigte Austarieren von Rehabilitation und Produktion in WfbM für mich selbstverständlich zum Werkstattalltag.
Und dennoch kommt es in manchen Situationen dazu, dass sich verschiedene Aufgabengebiete zu widersprechen scheinen, bzw. Werkstattträger sich wie in einem Spagat fühlen. Was sind Voraussetzungen dafür, trotz vorhandener Widersprüche eine Symbiose herzustellen?
Wer in einer WfbM tätig ist, kennt diese Situationen aus seinem Alltag: Ein Auftrag muss unter Zeitdruck fertiggestellt werden. Gleichzeitig sollen die Beschäftigten an geplanten Bildungseinheiten oder arbeitsbegleitenden Maßnahmen teilnehmen. Und vielleicht fordern gerade jetzt Werkstattbeschäftigte in einer Krise maximale Zuwendung ein. Was ist nun wichtiger? Was lasse ich sein? Wie kann ich das eine tun, ohne das andere komplett zu vernachlässigen?
Für diesen Konflikt gibt es keine Patentlösung – er ist sozusagen ein Kennzeichen der Werkstatt. Meine langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer von Werkstätten, Förderstätten und Inklusionsfirmen hat mir aber gezeigt, dass den Fachkräften gerade in solchen Situationen eine wesentliche Rolle zukommt. Sie sind das entscheidende Kapital einer Werkstatt. Ich kenne kaum ein anderes Unternehmen, in denen Fachkräfte mit so unterschiedlicher beruflicher Vorerfahrung zusammenarbeiten. Darin liegt für mich ein entscheidender Schlüssel zum guten Austarieren dieser Widersprüche. Das kann aber nur gelingen, wenn die verschiedenen Bereiche gleichberechtigt zusammenarbeiten und alle Mitarbeitenden sich umfassende Kompetenzen in anderen Fachdisziplinen aneignen können. Ich will hier aber auch keinen weltfremden Idealzustand beschreiben: Dass es im Arbeitsalltag immer wieder Situationen gibt, in denen ein Aushandeln nicht möglich und eine abschließende Entscheidung der Leitung nötig ist, sollte als Ausnahme die Regel bestätigen.
Welche Stellschrauben gibt es auf Personal- und Leitungsebene, um dies zu gewährleisten?
Eine wichtige Stellschraube ist, den Fachkräften Raum zur individuellen Entwicklung und zur Mitwirkung an der konzeptionellen Planung zu geben. So hat z. B. die Werkstattleitung bei der für Gruppenleitungen mit einem gewerblich/technischen Hintergrund vorgeschriebenen Zusatzqualifikation immer die Wahl: Sie kann sich für die sogenannte sonderpädagogische Zusatzqualifikation oder für die wesentlich umfassendere Qualifizierung zur geprüften Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung (gFAB) entscheiden. Die sonderpädagogische Zusatzqualifikation ist kürzer, erfordert weniger Abwesenheit und ist kostengünstiger. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich die Investition in motivierte Fachkräfte mit gFAB-Qualifikation auf lange Sicht auszahlt.
Idealerweise verkörpert zudem das Management das Zusammenspiel der verschiedenen Anforderungen an eine Werkstatt. In der Unternehmensführung kann dies u. a. dadurch gelingen, dass bei der Auswahl der Leitungskräfte darauf geachtet wird, dass die verschiedenen, notwendigen Fachkompetenzen eingebracht werden. Zudem sollten die verschiedenen Aufgaben (Rehabilitation, Produktion) in der WfbM-Organisation gleichberechtigt angeordnet sein. Vor allem den Werkstattleitungen kommt eine entscheidende Rolle zu: Sie sind das entscheidende Korrektiv und müssen für das „Gleichgewicht der Kräfte“ in der Organisation sorgen. Dies ist ein hoher, aber unverzichtbarer Anspruch.
Eine vollständige Kostentransparenz ist aus meiner Sicht unverzichtbar, um die verschiedenen Anteile von Rehabilitation und Produktion in WfbM nachvollziehbar zu machen, Kosten und Erlöse entsprechend zuzuordnen und damit der „Bevorzugung“ oder „Benachteiligung“ eines Bereiches vorzubeugen. Leitungen – aber auch Werkstattbeschäftigte, Mitbestimmungsorgane und die Fachkräfte – müssen wissen, wie es um die wirtschaftliche Situation in der WfbM und in ihren Bereichen bestellt ist. Bei aller Notwendigkeit von Wirtschaftlichkeit, Organisation und Fachkompetenz ist für mich aber immer entscheidend: WfbM sind für die Menschen mit Behinderungen da. Sie sollen Orte sein, an denen sich Leben entfalten kann und Emotionen, Haltung und Herz ihren Raum haben. Das wird umso leichter möglich, je sicherer eine Werkstatt organisiert und je gesünder sie wirtschaftlich aufgestellt ist – auch da sehe ich besonders die Leitungsebene in der Verantwortung.
Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie für WfbM im Vergleich zu anderen Unternehmen?
Eine besondere Herausforderung sehe ich darin, dass eine Werkstatt eigentlich aus zwei sehr verschiedenen Unternehmen besteht, die eng verzahnt zusammenarbeiten, gleichzeitig aber kostenseitig klar voneinander getrennt werden müssen. Auf der einen Seite müssen die Teilhabeleistungen innerhalb der Werkstatt auf Basis von Leistungsvereinbarungen über die Leistungsentgelte durch die Leistungsträger finanziert werden. Auf der anderen Seite müssen entstehende Kosten aus Produktion und Dienstleistung – einschließlich der Arbeitsentgelte der Werkstattbeschäftigten – über kostendeckend kalkulierte und vergütete Aufträge finanziert werden. Deshalb ist eine transparente interne Kostenzuordnung u. a. auf Basis der aktuellen Vergütungsvereinbarungen für die Unternehmenssteuerung existentiell wichtig.
Weiterhin unterscheidet sich die Herangehensweise bezogen auf die Produktion fundamental von einem „normalen“ Unternehmen. Üblicherweise steht in Unternehmen das zu erstellende Produkt am Anfang aller Überlegung. Davon ausgehend werden Mitarbeitende gesucht, die das Produkt oder die Dienstleistung mit dem geringsten Aufwand zu maximalem Erfolg bringen. WfbM hingegen müssen von den Werkstattbeschäftigen mit ihren individuell unterschiedlichen Kompetenzen und Hilfebedarfen ausgehen und den geeigneten Auftrag finden. Sie müssen zudem die Arbeitsprozesse so aufbereiten und zergliedern, dass die Menschen mit Behinderung sich bestmöglich einbringen können – und trotzdem die Wirtschaftlichkeit des Auftrages gewährleisten.
Nicht wenige Werkstätten stehen zudem vor der Problematik, dass ein lange bewährtes Produktportfolio plötzlich unwirtschaftlich wird, bestimmte Leistungen durch Veränderungen am Markt nicht mehr konkurrenzfähig sind und/oder bestimmte Arbeitsbereiche von Werkstattbeschäftigten nicht mehr ausreichend nachgefragt werden. Um hier rechtzeitig gegenzusteuern, sind u. a. eine kontinuierliche Marktbeobachtung, ein wirksames Controlling, rechtzeitige Modernisierung von Produktionslinien und das Wissen um moderne Marketingstrategien unumgänglich. Eine gut ausgewogene Vielfalt von Arbeitsfeldern macht eine WfbM zudem widerstandsfähiger.
Sie sind bereits auf die kostenseitige Trennung in WfbM eingegangen. Was ist im Rahmen der Werkstattorganisation notwendig, um beidseitig wirtschaftlich erfolgreich agieren zu können?
Bei einer konsequenten, verursachungsgerechten Kostenzuordnung kommt es nicht selten zu Konflikten mit dem Leistungsträger: Welcher Bereich soll die Beauftragten für das Qualitätsmanagement finanzieren, die sowohl Leistungsträger als auch Erwerbsauftraggeber einfordern? Wo sind die Kosten für die Geschäftsführung anzusiedeln? Nur wenn hier Klarheit geschaffen wird, entstehen verlässliche Kalkulationsgrundlagen. Und sich daraus ergebende Forderungen müssen vom Werkstattträger regelmäßig mit den Leistungsträgern und Auftraggebern verhandelt werden, um z. B. Tarifsteigerungen zeitnah ausgleichen zu können. Auch hier habe ich die Erfahrung gemacht: Je besser und belastbarer die Kalkulationsgrundlagen auf Seiten des Werkstattträgers vorbereitet sind, desto größer ist die Chance auf erträgliche Abschlüsse.
Auch auf der Produktions- bzw. Dienstleistungsseite wird es für WfbM immer schwieriger zu wirtschaftlichen Ergebnissen zu kommen. Von großer Bedeutung ist die korrekte Kalkulation von Aufträgen – unter keinen Umständen darf die Leistung der Werkstatt unter Preis verkauft werden. Das sind wir schon den Werkstattbeschäftigten schuldig. Zudem ist gesetzlich festgelegt, dass die Werkstatt den Beschäftigten für ihre Arbeit ein leistungsgerechtes Entgelt bezahlen muss. Für eine korrekte Kalkulation braucht es auf Seiten der Fachkräfte sowie des Managements die dafür notwendigen Kompetenzen. Menschen, die die Produktion oder den Verkauf verantworten, müssen die Wirtschaftlichkeit von Leistungen nachvollziehen können. Dafür ist es erforderlich, die Kosten im Produktionsbereich transparent aufzubereiten und regelmäßig nachzukalkulieren. Besonders herausfordernd wird es, wenn plötzlich ein Kostenparameter ansteigt, wie dies z.B. derzeit im Rahmen der Energiepreisentwicklung der Fall ist. Es ist kaum möglich, schnell genug zu reagieren, aber Werkstätten müssen wissen, was das im Einzelfall für sie bedeutet. So hat die BAGÜS bspw. angekündigt, keine Ausgleichszahlungen für produktionsbedingte Energiekostensteigerungen leisten zu wollen. Werkstätten, die Ihre Kosten klar zugeordnet haben und damit transparent belegen können, dürften auch hier im Vorteil sein.
Im Rahmen Ihrer Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender bei der Landesarbeitsgemeinschaft der WfbM in Bayern sowie Ihrer Zeit als Mitglied im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der WfbM haben Sie sich auch sozialpolitisch engagiert. Was bedarf es aus dieser Perspektive, um Werkstätten zukunftsfähig aufzustellen?
Wesentlich ist die konsequente Umsetzung der Mitbestimmung der Werkstattbeschäftigten, die mit der Reform der Mitwirkungsverordnung festgelegt wurde. So ist zu hinterfragen, warum Werkstatträte nicht ausreichend bei grundsätzlichen Entscheidungen oder der Einstellung von Fachpersonal beteiligt werden. Ohne gelebte Mitwirkung und Mitbestimmung gibt es für mich keine glaubwürdige Orientierung der Werkstätten an den Bedarfen der Beschäftigten und damit auch keine Inklusion im Arbeitsleben. Außerdem ist die Weiterentwicklung der Beruflichen Bildung in Werkstätten von großer Bedeutung: Bundesweit geltende Standards und anerkannte Abschlüsse bzw. Teilqualifikationen wären ein wichtiges Ziel. Weiterhin müssen sich Werkstätten mit der Wirkung und Wirksamkeit Ihrer Leistungen auseinandersetzen.
Eine maximale Transparenz ist für mich die Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz. Werkstätten sollten nach innen und außen transparent die eigenen wirtschaftlichen Kennzahlen und Konzepte zur Umsetzung von Teilhabe kommunizieren. Damit können sie zeigen, dass sie verantwortungsbewusst mit den zur Verfügung gestellten Mitteln umgehen, und auf problematische Sachverhalte hinweisen. In jedem Fall denke ich, dass Transparenz die eigene Position stärkt und Verständnis weckt. Auch die Digitalisierung bietet ein riesiges Feld an Chancen für eine teils fundamentale Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen – bezogen auf die soziale Teilhabe, aber auch auf die berufliche Bildung und Produktion. Werkstätten sollten sich hier als Innovationstreiber sehen und die neuen Möglichkeiten konsequent in ihre Arbeit integrieren.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Horn!
Redaktion: Leonie Hecken© pablocalvog/ Adobe Stock
Birgitta Neumann
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