Patrick Weiss über Reformen der Pflegeversicherung: „Wir brauchen einen Perspektivwechsel“

Donnerstag, 24 Februar 2022 16:45

Jurist Patrick Weiss ist Marktfeldleiter Pflegeunternehmen bei der contec GmbH. Er war zuvor 30 Jahre in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft, vor allem in der Altenhilfe, tätig und hat u. a. die Pflegeeinrichtungen der avendi Senioren Service GmbH aufgebaut. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie er die Entwicklung der Pflegeversicherung und ihre Reformen seit der Einführung 1995 einschätzt und warum er sich einen Paradigmenwechsel für die Pflege wünscht. Das Gespräch können Sie hier in gekürzter Form lesen oder unterwegs einfach als
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Herr Weiss, Sie haben beim digitalen Auftakt zum 18. contec forum im Januar einen Vortrag zum Thema Pflegeversicherung gehalten. Dort haben Sie gesagt, dass es zwar häufig Reformen gab, aber alle den „notwendigen großen Wurf“ vermissen ließen. Sie sind schon lange in der Pflegebranche tätig, wie fällt allgemein Ihr Fazit zur Pflegeversicherung aus?

Patrick Weiss, Marktfeldleiter Pflegeunternehmen contec GmbH

Patrick Weiss, Marktfeldleiter Pflege-
unternehmen der contec.

Wenn man sich anschaut, warum die Pflegeversicherung ursprünglich eingeführt wurde, muss man zunächst ein positives Fazit ziehen. Eines der Hauptanliegen der Pflegeversicherung war, den pflegebedingten Aufwand abzudecken, damit Menschen durch Pflege nicht in Armut geraten. Pflegebedürftigkeit war ein hohes Risiko, auch sozialhilfebedürftig zu werden. Man hatte in den 1990er Jahren eine Infrastruktur, die nicht mehr zeitgemäß war. Der demografische Wandel mit einer wachsenden Zahl älterer Menschen und einer dementsprechend großen Zahl Pflegebedürftiger zeichnete sich ab. Durch die stetig wachsende finanzielle Belastung für die kommunalen Kassen waren geförderte Einrichtungen sowie durch Land und Kommunen aufgebaute und bezahlte Einrichtungen schwerer denkbar.

Die Pflegeversicherung hat einen Beitrag dazu geleistet, die stark steigende Zahl Pflegebedürftiger zu bewältigen. Es hat sich seither auch hinsichtlich Qualität, Professionalisierung und Standardisierung viel getan.

Und wo sehen Sie die größten Irrungen im derzeitigen System?

Die Perspektive der Mitarbeitenden und Pflegebedürftigen – die praxisrelevante Betrachtung – wurde bisher zu wenig berücksichtigt. Die Gründung der Pflegekammern 20 Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung und die Versuche, diese einzubinden und der Pflege eine Stimme zu geben, sind im Grunde nur Begradigungen, weil nie aus Sicht der Pflege –„bottom-up“– überlegt wurde: Was ist der tatsächliche Aufwand? Wie wird tatsächlich gearbeitet? Wie kann man tatsächlich ermitteln, was notwendig ist? Deshalb gibt es eine große Lücke zwischen dem, was sein müsste und dem, was tatsächlich passiert.

Es war meiner Meinung nach u. a. ein Fehler, dass man die Sektoren ambulant und stationär getrennt hat. Wenn heute Menschen in Verbundeinrichtungen einziehen, dann entsteht der Eindruck: Wer dort in eine Wohnung einzieht, hat viele Pflegekräfte vor Ort, die sich kümmern können und es finden Freizeitaktivitäten statt, an denen jede*r teilnehmen kann. Das ist leider nicht unbedingt so, weil die Vertragsverhältnisse der ambulanten und stationären Versorgung vollständig voneinander getrennt sind. Deshalb darf nicht jede*r an allen Aktivitäten teilnehmen und von jede*r Pflegekraft gepflegt werden. Die Regulierungen sind also sehr hoch und es gibt wenige Freiheiten zur eigenen Gestaltung. Was die Pflege aber eigentlich braucht, sind sehr viel kleinteiligere und am Menschen orientierte Strukturen.

Ein weiteres Thema, das auch seit Einführung des PSG III breit diskutiert wird, ist die Beteiligung der Kommunen. Die kommunale Selbstverwaltung hat nach dem Grundgesetz nicht nur Rechte, sondern sie hat eine Verpflichtung, in der das Leben der Senior*innen eine große Rolle spielt: die Daseinsvorsorge. Ich rede nicht nur vom Aufbau von Rampen an Bahnsteigen oder Bushaltestellen, sondern von Barrierefreiheit in der Stadt insgesamt. Mir fehlt bei den Kommunen, bis auf wenige Ausnahmen, das tiefgreifende Konzept dafür. Es gab z. B. sehr viele kommunale Wohnungsbaugesellschaften, denen ein*e Quartiersmanager*in, ein ambulanter Dienst oder ein*e Betreuungsdienstleiter*in vonseiten der Kommunen hätte zur Seite gestellt werden können. Im Bereich des betreuten Wohnens hätte dann viel in Eigenregie gemacht werden können. Das hat leider zu spät angefangen.

Ein weiterer großer Punkt ist, dass der Pflegeberuf mit Einführung der Pflegeversicherung, wie in 25 anderen EU-Ländern, auch direkt hätte akademisiert werden sollen. Die Pflege hätte heute andere Strukturen und es würde einige Probleme nicht geben.

Wie könnte die Pflege aussehen, wenn man sie aus der Perspektive der Pflegenden betrachten würde?

Es sollte in den Blick genommen werden, wie eine wirkliche pflegefachliche Organisation aussieht, anstatt Strukturen und Kostenrahmen vorzugeben. Die ganzen administrativen und bürokratischen Anforderungen in der Sozialwirtschaft und die jährlich erfolgenden großen Neuerungen binden enorme Ressourcen. Die besten Leute, die wir haben, sind eingespannt in die Umsetzung von Konzepten und in administrative Tätigkeiten. Würde es andere Vorgaben geben, dann wären sicher noch Kapazitäten da, um u. a. eine höhere Fachlichkeit und mehr Eigenverantwortung umzusetzen.

Die Personalanhaltszahlen, wie sie im Rahmenvertrag vorgegeben sind, lassen sich nicht an der Realität messen. Es gab in den letzten 25 Jahren drei große Versuche, die Personalbemessung zu strukturieren, doch die haben alle nicht gefruchtet. Gehen wir mal zurück: Die Pflegezeitbemessung für die einzelnen Pflegestufen sah z. B. so aus, dass in der „Pflegestufe 5“ 45 Minuten für die Pflege und 45 Minuten für hauswirtschaftliche Tätigkeiten eingeplant wurden. Das hieß, eine Pflegekraft in der ambulanten Pflege hatte 90 Minuten pro Tag Zeit für einen Menschen. Im stationären Bereich hingegen sollten Erleichterungen mit einberechnet werden, weil die Arbeit professionalisiert ist und mehrere Pflegekräfte und Pflegebedürftige gemeinsam an einem Ort sind. Es wurde aber nie präzisiert, was das praktisch bedeutet. Wenn also nicht richtig hingeschaut wird, dann kann auch nicht verstanden werden, wie der Pflegealltag funktioniert. Seither gibt es eine Diskrepanz zwischen den Rahmenbedingungen und den praktischen Bedingungen in der Pflege. Hätte man das von Anfang an gesehen und anders aufgezogen, dann hätten die Pflegekräfte heute andere Arbeitsbedingungen.

Zudem gibt es vor allem seit der Föderalismusreform 2006 eine Divergenz zwischen den bundeseinheitlichen Gesetzen und den Vorgaben auf Landesebene: Auf der einen Seite steht das bundesgesetzliche Leistungsrecht, das den Eindruck erweckt, es würden in ganz Deutschland die gleichen Regelungen gelten. Das ist hinsichtlich bestimmter Rahmen auch richtig, z. B. was Qualitätsmaßstäbe und die Pflegegrade betrifft. Aber im Zuge der Reform sind in allen Bundesländern unterschiedliche Heimgesetze entstanden, zum Teil mit doppelten Zuständigkeiten von Heimaufsichtsbehörden und den Prüfinstanzen der Spitzenverbände der Krankenversicherungen. Die Personalschlüssel unterscheiden sich zudem je nach Bundesland und beinhalten auch unterschiedliche Stellen und Funktionen. Daraus erklären sich solche Eigenheiten wie die Tatsache, dass z. B. in Mecklenburg-Vorpommern mit weniger Personal Pflege geleistet wird als in Bayern. Der „Pflegegrad 4“ ist bundesweit gleich und warum er woanders mit weniger Leuten bewerkstelligt werden kann, ist sachlich nicht zu erklären. Es erklärt sich aber anhand der unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Entgelte in den Ländern. Das soll jetzt aber mit dem Bemessungsinstrument von Professor Rothgang geändert werden.

? Zukunft der Pflege: Zur Podcast-Episode mit Patrick Weiss

 

Wie reiht sich das Thema Tariftreue in den Kontext der „zu kleinen“ Reformen ein?

Die Tariftreue ist ein klassisches Beispiel für den Umgang mit Reformen im Rahmen der Pflegeversicherung: Reformen werden auf den Weg gebracht und sollen sehr schnell umgesetzt werden, obwohl deren Umsetzung nicht komplett geregelt ist.

Für die Umsetzung der Tariftreue wurde ein Zeitrahmen gesetzt, der ohnehin schon knapp war. Im Gesetz hieß es, dass im September 2021 die Richtlinien zur Umsetzung bekannt gemacht werden würden. Doch als die Richtlinien dann an den GKV-Spitzenverband weitergeleitet wurden, gab es zunächst eine Diskussion darüber, was denn eigentlich Tariforientierung ist. Als ich das Gesetz gelesen habe, habe ich mich auch gefragt: Geht es hier um eine Vergütung, einen Zuschlag, eine Zulage oder um die zusätzliche Altersversorgung? Das musste erst geklärt werden, bevor Träger sich an eine Umsetzung der Reform begeben können, und damit ist man jetzt erst – also mehrere Monate später – fertig geworden. An der Terminplanung in der Folge, der Einführung zum 1. September 2022, wurde dennoch nichts geändert.

Aber ein Pflegeheimbetreiber – erst recht ein kleiner, der nicht über die notwendigen Ressourcen verfügt – muss sich vorher viele Gedanken dazu machen, wie er sich künftig positionieren wird. Und auch die, die schon nach Tarif zahlen, werden sich überlegen müssen, wie sie sich nach der Umsetzung noch von anderen Trägern absetzen können, z. B. durch den Aufbau einer Arbeitgebermarke. Das alles aber bindet enorme Ressourcen.

Was wünschen Sie sich für die zukünftige Weiterentwicklung der Pflege?

Wir brauchen den Perspektivwechsel hin zur praxisorientierten Betrachtung und müssen uns von der Haltung: „Wir wissen, was gut für dich ist, dementsprechend gestalten wir und so wirst du das natürlich machen“ entfernen. Wir haben in der Sozialwirtschaft insgesamt hohe Regulierungen und eher eine Kultur des Misstrauens – es gibt viele Kontrollen, aber wenig Gestaltungsfreiheit.

In der Corona-Krise hat man dann aber erlebt, dass viele Regelungen unter den Tisch gefallen sind, weil auf einmal alles sehr schnell gehen musste. Wir hatten jahrelang geübt, dass wir bei Bewohnenden nicht von einer „Verlegung“ sprechen, sondern von einer „einvernehmlichen Anpassung des Heimvertrags“. In der Verordnung hieß es dann plötzlich wieder „verlegen“, „isolieren“ und „absondern“, bei dementen Personen sogar „einsperren“. Was ich damit sagen will: Es wird den Betreibern normalerweise aufwendig erklärt, wie sie ihre Arbeit zu machen haben, dann bricht in der Krise die große Hektik aus und alles ist vergessen.

Hinzu kam, was an Leistungen und Pflichten in die Häuser und die Betriebe gegeben wurde: Schutzmaßnahmen, Hygienekonzepte, Besuchsregelungen, Tests, Lüften usw. Das mussten alles die Leute vor Ort machen. Die Gesundheitsämter waren nicht stark genug, um bei der Organisation und Umsetzung besser helfen zu können. Ein ohnehin schon überlastetes System ist somit weiter strapaziert worden, ohne die realen Arbeitsbedingungen miteinzubeziehen.

Wie unterstützt Ihr Team bei contec Träger dabei, mit den bestehenden Rahmenbedingungen wirtschaftlich und qualitativ eine gute Pflege zu garantieren?

In der Pflege sehen die Arbeitsbedingungen heute so aus: Verfügbarkeit 24/7 an 365 Tage im Jahr, eine nicht planbare Freizeit, ein nicht verlässlicher Dienstplan, häufiges Einspringen – im Grunde eine permanente emotionale Überforderung. Deshalb muss ständig kompensatorisch dagegen gearbeitet werden, dass die Beschäftigten ausbrennen. Das kann aber keine zukunftsgerichtete Strategie sein. Die Sozialwirtschaft braucht stattdessen Strukturen, Organisationsschemata und Pflegeprozesse, die die Praxis in der Pflege so abbilden, wie sie wirklich ist.

Unser Team hat im Vorgriff auf das Rothgang-Gutachten und auch als elementaren Bestandteil dazu ein Projekt gestartet: das Pflegeprozessmanagement 2.0. Das ist ein Rollenmodell, mit dem nach unserer Auffassung die Pflege in der Zukunft stabiler und verlässlicher gestaltet werden kann. Aufgaben, die normalerweise ausschließlich bei der Leitungskraft liegen, werden aufgeteilt: Vom Bewohnergespräch über die Aufnahme und die Pflegeplanung bis hin zur Organisation aller Mitarbeitenden, der Dienstplanung, der Konfliktlösung und vieles mehr.

Das Modell entfernt sich von der angestammten Auffassung von Hierarchien und geht in eine horizontale Teilung von Aufgaben und Verantwortungen. Da spielt u. a. auch die stationäre Tourenplanung eine Rolle. Für die stationäre Pflege heißt das z. B., dass Mitarbeitende in den Wohnbereichen an der Strukturierung ihres Bereichs beteiligt werden. Sie entscheiden selbst, wer neu aufgenommen werden kann. Denn sie haben den Überblick: Reichen unsere Kapazitäten und Ressourcen aus? Passen Diagnose und Pflegebedarf zu uns und unserer Arbeit? Aber auch die Verantwortungen über Budgets und Wirtschaftlichkeit sollen stärker verteilt werden. So kann eine andere Struktur und ein anderes Empfinden von Arbeit entstehen – da müssen wir hin.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Weiss!

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Redaktion: Katharina Ommerborn
© Titelbild: Rawpixels.com