Quartier und Co: Innovative Pflege über Sektorengrenzen hinweg
Innovation VI. Die Trennung in einen ambulanten und stationären Sektor der Pflege spiegelt heute vielfach nicht mehr die Bedarfe der Praxis wider. Neben wirtschaftlichen Aspekten und der Frage nach der langfristigen Tragfähigkeit der Pflegeversicherung verhindert das System im Alltag oft einfache Lösungen und das Entstehen innovativer, personenzentrierter Versorgung. In diesem Beitrag finden Sie spannende Beispiele und hilfreiche Denkanstöße zur Gestaltung neuer Versorgungsformen.
Der 81-jährige Herr Schubert wohnt allein in seiner eigenen Erdgeschosswohnung. Diese befindet sich unmittelbar neben einer klassischen stationären Pflegeeinrichtung. Er möchte in seiner Wohnung so lange wie möglich wohnen bleiben. Aktuell kommt Herr Schubert noch weitestgehend selbst zurecht. Die benötigte Hilfe erbringen seine – eine halbe Stunde entfernt lebenden – Angehörigen sowie ein ambulanter Dienst. Läge es in diesem Setting nicht nahe, dass der Senior bei Bedarf auf die vorhandene Infrastruktur der stationären Einrichtung zurückgreifen kann? Das ist jedoch nicht so einfach möglich – ein fiktives Beispiel, das die Grenzen des aktuellen Systems aufzeigt.
Starrer Rahmen, falsche Anreize
Historisch ist die Trennung der Pflegeversicherung in die beiden Sektoren in der Kopie der Leistungserbringungsstrukturen der GKV begründet. Der starre Rahmen steht jedoch bedürfnisorientierten Versorgungsformen entgegen. Zudem schafft er Anreize, Versorgungsmodelle so zu gestalten, dass sie formal als ambulant klassifiziert werden, auch wenn große Ähnlichkeiten zur vollstationären Pflege bestehen.
Die Möglichkeit, im ambulanten Sektor Stapelleistungen in Anspruch zu nehmen, ist ein Beispiel dafür. Durch die Verbindung von Pflegesach- und teilstationären Leistungen sowie Leistungen der medizinischen Behandlungspflege kann ein quasistationäres Angebot mit deutlich höherer Vergütung und gleichzeitig geringeren ordnungs- und leistungsrechtlichen Regulierungen erbracht werden.
Inwieweit können trotz der Einteilung in zwei Sektoren innovative Versorgungsformen entstehen, wenn diese unterschiedlichen Regulierungsrahmen unterliegen, die erheblich die Wirtschaftlichkeit beeinflussen? Als „innovativ“ sind dabei solche Ansätze zu verstehen, die in der Versorgung die individuellen Bedürfnisse z. B. der gesellschaftlichen Teilhabe der Pflegebedürftigen in den Vordergrund stellen und echten Nutzen bringen.
Quartiere und mehr: Wie innovative Versorgung aussehen kann
Trotz der Hindernisse haben sich in den letzten Jahren bereits neue Versorgungsformen entwickelt, die Ansätze einer sektorenübergreifenden Versorgung zeigen und den Unterstützungsbedürftigen mehr Autonomie in der Gestaltung ihres Pflegesettings geben:
Städtische Seniorenheime Krefeld
- Die Städtischen Seniorenheime Krefeld haben auf Basis eines Gesamtversorgungsvertrags in den Quartieren rund um ihre stationären Einrichtungen eine sektorenübergreifende Nahraumversorgung etabliert. Dieser Gesamtversorgungsvertrag macht es möglich, aus einem Team heraus sowohl stationäre Leistungen in den Seniorenheimen als auch ambulante Leistungen in den einrichtungsumgebenden Quartieren zu erbringen. Die stationären Einrichtungen dienen dabei als Begegnungszentrum und Kommunikationsknotenpunkt im Quartier. Sie sind der zentrale Ansprechpartner für alle Leistungen. Case-Manager*innen begleiten die Klient*innen durch das Leistungsangebot und steuern den individuellen Hilfsprozess. Aus Kundenperspektive reduzieren sich so Schnittstellenproblematiken, Übergänge werden erleichtert. Dabei treffen die Klient*innen unabhängig von der Versorgungssituation auf die ‚gleichen Gesichter‘.
„Stambulant“-Konzept der BeneVit Gruppe
- Das „Stambulant“-Konzept der BeneVit Gruppe ist im Rahmen eines vom GKV-Spitzenverband geförderten Modellvorhabens entwickelt worden. Es kombiniert stationäres Wohnen und ambulante Wahlleistungen. Die in einer Hausgemeinschaft lebenden Bewohner*innen erhalten jeweils eine Grundversorgung, die in begrenztem Umfang grund- und behandlungspflegerische Leistungen beinhaltet. Wünschen sie sich zusätzlich Leistungen wie z. B. Körperpflege, können diese durch den eigenen ambulanten oder einen externen Dienst dazugebucht oder auch von Angehörigen erbracht werden. Ordnungsrechtlich handelt es sich um eine stationäre Einrichtung. Leistungsrechtlich beinhaltet das Konzept stationäre und ambulante Elemente.
WohnenPLUS, Evangelische Heimstiftung
- Das Konzept WohnenPLUS der Evangelischen Heimstiftung vereint verschiedene Wohnformen und Dienstleistungsangebote unter einem Dach. Je nach Wohnform sind gewisse Basisleistungen vorgesehen, die um individuell gewünschte Service- und Pflegeleistungen ergänzt werden können. Ein weiterer Baustein ist der angestrebte „Bürger-Profi-Mix“ in der Versorgung bzw. die damit verbundene aktive Einbindung des persönlichen Umfelds. Angehörige und Bezugspersonen aus dem persönlichen Netzwerk übernehmen gemeinsam mit den Diensten der Ev. Heimstiftung Pflege und Betreuung.
Diese Ansätze eint die Kombination stationärer und ambulanter Leistungen für eine individuellere Versorgung. Die erbrachten Leistungen unterliegen aber nach wie vor unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen – und damit der Notwendigkeit, sie als ambulant oder stationär zu klassifizieren. Dadurch wird die Wahlfreiheit der Klient*innen beeinflusst, aber auch das Leistungsangebot selbst.
Neue Versorgungsformen entwickeln
Für eine von Sektorengrenzen ungehinderte freie Entwicklung von Versorgungsformen braucht es einen neuen Blickwinkel, jenseits von bestehenden Kategorien und Schubladen. Stellt man das Leistungsgeschehen in den Mittelpunkt, lässt sich Versorgung durch eine Matrix mit den Achsen Wohnen, Leistungen und Akteur*innen darstellen.
Die Matrix ermöglicht eine getrennte Betrachtung der einzelnen Dimensionen von Unterstützung. Es lassen sich unterschiedliche sowohl personenbezogene als auch standortspezifische Unterstützungspakete designen, in denen mehrere Akteur*innen gemeinsam Wirkung erzielen.
Folgende Fragen unterstützen die Einordnung bzw. Entwicklung eines Versorgungsmixes:
- Wie wohnen die Menschen, deren Versorgung durch einen Leistungs- und Akteursmix unterstützt werden soll?
- Welche Leistungen werden in ihrem jeweiligen Wohnsetting erbracht?
- Welche Akteur*innen sind in der Leistungserbringung aktiv?
Zurück zu Herrn Schubert: Längerfristig braucht er in seiner Wohnung Unterstützung, die von verschiedenen Akteur*innen erbracht werden müsste. Warum also nicht flexibel denken: Die grundpflegerischen Leistungen erbringt ein ambulanter Dienst aus dem Quartier. Die stationäre Einrichtung von gegenüber gewährleistet Sicherheit, indem die Wohnung an ihr Hausnotrufsystem angeschlossen ist. Den Einkauf übernehmen am Wochenende die Angehörigen, unter der Woche ist die Nachbarschaftshilfe für Unterstützung zur Stelle. Das Kochen übernimmt Herr Schubert an den meisten Tagen selbst. Sein ,smarter‘ Herd schaltet sich dabei notfalls selbst aus. Wenn sich Herr Schubert Gesellschaft wünscht, nimmt er am offenen Mittagstisch der stationären Einrichtung teil.
Versorgung im Baukastensystem?
Die dargestellte Matrix kann nicht nur, wie in diesem Beispiel, zum Ausgestalten der individuellen Versorgungsszenarien genutzt werden, sondern auch für die Quartiersebene, indem unterschiedliche Versorgungsbedarfe, Leistungserbringer und Wohnformen zu einem Gesamtbild kombiniert werden. Der Ansatz macht es möglich, ein System unabhängig von bestehenden Kategorien zu betrachten und lädt dazu ein, im Baukastensystem Leistungserbringer, Wohnformen und Leistungen unabhängig von bestehenden Finanzierungssystemen zusammenzusetzen – mit sektorenübergreifenden Lösungen.
➤ Versuchen Sie doch einmal, Elemente aus der Matrix zu einer innovativen Lösung für das Angebot Ihres Trägers im Sinne Ihrer Klient*innen zu kombinieren. Gerne suchen wir mit Ihnen zusammen nach solchen unkonventionellen Wegen und freuen uns auf den Austausch. Derzeit erarbeitet contec bereits mit verschiedenen Trägern neue quartiersorientierte Versorgungsformen.
Text: Nico Dahm/Dr. Jan Schröder Titelbild: © REDPIXEL, Grafik: © contec GmbHDr. Jan Schröder
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