Pflegereform 2021: Pflegeversicherung braucht eine Kernsanierung
„Die goldenen Zwanziger der Pflege“ – so nannte Detlef Friedrich, Geschäftsführer der contec, im Januar 2020 beim 16. contec forum die bevorstehende Ära für die Pflegebranche. Welche tiefgreifenden Veränderungen und Herausforderungen das Jahr für die Pflege mit sich bringen würde, hat da noch niemand geahnt. Und dann kam Corona. Neben der Bekämpfung der Pandemie, den Hilferufen aus der Branche und den Rettungsschirmen als politische Antwort darauf hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn es geschafft, zum Ende des letzten Jahres ein Eckpunktepapier für eine Pflegereform 2021 vorzulegen. Eines ist klar: Die notwendige „Kernsanierung“ der Pflegeversicherung und der zugehörigen Versorgungsstrukturen, wie Friedrich sie fordert, sieht das zweiseitige Papier nicht vor. Aber es stößt rege Diskussionen an. Der digitale Auftakt zum 17. contec forum Pflege und Vernetzung hat die Pflegepolitischen Sprecher*innen der Bundestagsfraktionen (SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne) mit Vertreter*innen der Pflegebranche in den Dialog gebracht und sehr deutlich die größten Baustellen aufgezeigt. Ein Kernthema neben Fragen des Fachkräftemangels oder der Digitalisierung waren das Eckpunktepapier und die Finanzierungsvorschläge für die teure, aber notwendige Pflegereform 2021. Wir fassen die Kernthesen für Sie zusammen: Das braucht die Pflege 2021.
„Tablets sind leichter zu bekommen als Fachkräfte“
Eine der ersten Maßnahmen des Bundesgesundheitsministers für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen war die Schaffung von 13.000 Fachkraftstellen für die vollstationäre Pflege. Nachdem das Gutachten zu einem einheitlichen Personalbemessungsverfahren durch Prof. Heinz Rothgang aufgezeigt hat, dass vor allem ein Bedarf an Pflegehilfskräften und einem guten Qualifikationsmix besteht, wurden 20.000 weitere Stellen extrabudgetär für Pflegeassistent*innen geschaffen. Das ist ein gutes Signal, doch die Besetzung der neu geschaffenen Fachkraftstellen läuft gelinde gesagt schleppend. Die angespannte Lage des Arbeitsmarkts gibt die Fachkräfte einfach nicht her und auch Pflegeassistent*innen gibt es nicht gerade wie Sand am Meer. Und die Corona-Pandemie hat das Problem verschärft. Wie also die geschaffenen Stellen besetzen, wenn schlichtweg das Personal fehlt? Von den 13.000 Fachkraftstellen wurden erst rund 2.400 besetzt. Ein Teilnehmer der Veranstaltung berichtete, dass die Bearbeitung der Anträge bei den Pflegekassen zum Teil drei bis sechs Monate in Anspruch nehme. Dr. Martin Schölkopf vom BMG, der den Einstiegsimpuls „Faktencheck Pflegereform 2021“ gab, warb um Verständnis – die Maßnahmen für eine Entspannung bei der Personaldecke der Branche wären in Arbeit und bräuchten noch etwas Zeit, um zu greifen – und sicherte zu, dass das Ministerium bei solchen Einzelfällen, in denen die Bewilligung lange dauerte, informiert werden wolle, um zu reagieren. 2021 braucht: praktische Lösungen für den Fachkräftemangel.
Arbeitsbedingungen, Ausbildung und Attraktivität
Eine Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf die Frage danach, wie denn die geschaffenen insgesamt 23.000 zusätzlichen Stellen besetzt werden sollen, liegt in der generalistischen Ausbildung, die seit 2020 greift. Zu früh, um hier einen Erfolg zu vermelden. Das wissen auch die Teilnehmenden und erwarten keine sichtbaren Verbesserungen durch die Ausbildungsreform vor 2024. Ein weiterer Vorschlag für mehr Attraktivität machte Nicole Westig von der FDP. Sie forderte mehr Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Qualifikationen, und zwar von der Pflegeassistenz bis zur Pflegeprofessur. Bis es so weit ist, könnte das Thema der besseren Bezahlung vielleicht Abhilfe schaffen, doch beim Thema allgemeinverbindlicher Tarifvertrag für die Pflege schieden sich die Geister wie eh und je. Die Kirchen, bei denen der Ball gerade liegt – mit „Ball“ ist der Entwurf für einen solchen Tarifvertrag von ver.di und dem BVAP gemeint – wollen ihren dritten Weg nicht aufgeben, die Verbände der privaten Träger sehen eine Gleichmachung im Wettbewerb und befürchten eine Rückkehr zum Selbstkostendeckungsprinzip. Nichtsdestotrotz hält Spahn an seinen Plänen fest, vorerst mit der allgemeineren Klausel: Die Zulassung soll an die Tarifbezahlung gekoppelt werden. 2021 braucht: Ein klares Bekenntnis der gesamten Branche zu höheren Löhnen und Möglichkeiten der Refinanzierung.
Digitalisierung in der Pflege: Für mehr Effizienz und Kostenersparnis?
Konsens beim Thema Digitalisierung in der Pflege scheint zu sein, dass in diesem Bereich bisher viel zu wenig passiert ist. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verwies in seinem Grußwort zum digitalen Auftakt des contec forums auf die Einbindung der Pflege in die Telematik und die angestrebte Erprobung von Telepflege. Die Diskussionen im Chat des Livestreams aber zeigten: Beim Thema Digitalisierung bestehen basale Defizite was die Definition betrifft: Was fällt darunter? Eine digitalisierte Pflegedoku? Der Einsatz von technischen Hilfsmitteln? Den Beteiligten fehlt eine klare Linie, wie Kostenübernahmen für Digitalisierungsprozesse laufen und sie sehen es kritisch, dass in der Forschung viel passiert, aber nichts über Modellprojekte hinausgeht. 2021 braucht: den Theorie-Praxis-Transfer beim Thema Digitalisierung und klare Finanzierungszusagen.
Pflegereform 2021: Umkehrung des Leitsatzes ambulant vor stationär?
Der Vorschlag zu einer Pflegereform von Jens Spahn ist vieles, aber nicht unumstritten. Von großem Lob bis hin zu scharfer Kritik an den Finanzierungsplänen war unter den Teilnehmenden und Referent*innen jede Ansicht vertreten. Grundsätzlich aber herrschte ein Tenor, der dem Vorschlag im Wesentlichen zustimmt und erste gute Ansätze, im Detail aber Nachbesserungsbedarf sieht. So erfährt die Deckelung des Eigenanteils bei 700 Euro in der stationären Pflege breite Zustimmung, viele Teilnehmende sehen aber eine gefährliche Umkehrung des Leitsatzes „ambulant vor stationär“, der noch die letzte Pflegereform, die Pflegestärkungsgesetze (PSG) I – III prägte. Nicht ganz zu Unrecht, wie sich herausstellt. Dr. Schölkopf räumte ein, dass die ambulante Pflege bei den letzten Reformen durchaus im Fokus stand und deshalb nun für die stationäre Pflege nachgezogen würde. Gleichwohl sei durch das Entlastungsbudget und weitere Maßnahmen auch die ambulante Pflege mit bedacht. Große Verunsicherung herrscht aber bei Betreibern der Tagespflege, insbesondere dann, wenn diese Settings baulich mit dem Angebot des betreuten Wohnens zusammenhängen. In diesen Fällen droht eine Budgetkürzung von bis zu 50 Prozent. 2021 braucht: Verstärkte Diskussionen über die Abschaffung starrer Sektorengrenzen sowie eine Schärfung der Schnittstellen zu anderen Sozialgesetzbüchern.
Generationengerechtigkeit: Ob Steuerzuschuss oder Beitragserhöhung – die Jungen zahlen für die Alten
Mit dieser und weiteren zugespitzten Thesen wird die Diskussion um die Finanzierungsvorschläge des Bundesministeriums für die geplante Pflegereform 2021 geführt, deren Kosten sich laut aktuellen Berechnungen auf insgesamt rund sechs Mrd. Euro belaufen würden. Prof. Bernd Raffelhüschen – seines Zeichens seit 30 Jahren ein Gegner der umlagefinanzierten Pflegeversicherung – bezeichnete in seinem Vortrag das Vorhaben der Regierung, die Lücken der Pflegeversicherung unter Umständen durch Bundeszuschüsse auszugleichen, als ein überproportionales Flugzeug, das in die Luft geschickt würde, ohne, dass es eine ausreichend lange Landebahn dafür gäbe. Der zur Rede stehende Sockel-Spitze-Tausch für die Umwandlung der Pflegeversicherung von einer Teilkasko- zu einer Vollkaskoversicherung sei alles andere als nachhaltig. Metaphern gibt es viele: Ein Fass ohne Boden, die Pflegeversicherung bilanziere wie die Frittenbude um die Ecke, die Pflegefälle von heute seien die Nutznießer eines neu geschaffenen Schneeballsystems und alles liefe auf eines hinaus: Ein Akzeptanzproblem bei den jüngeren Generationen. Raffelhüschen rechnete vor: Aus den sechs Milliarden würden schnell mehr werden, u. a., weil eine Vollkasko-Versicherung auch für mehr Nachfrage sorge. Die Gegenfrage: Sorgt die Teilkasko nicht gerade dafür, dass dringend notwendige Pflegeleistungen in der ambulanten Pflege nicht in Anspruch genommen werden, weil sie zu teuer sind? Und warum kann die Krankenversicherung eine Vollkasko sein, die Pflegeversicherung aber nicht? Und was passiert, wenn man gezielte Pflegeprävention in die Berechnungen einschließt? Was scheint wie ein betriebswirtschaftlicher Diskurs um verschiedene Rechenmodelle entpuppt sich als ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs um einen Generationenvertrag, der vielleicht noch keiner ist. 2021 braucht: Neben der Diskussion um Steuerzuschüsse die Prüfung anderer Entlastungsmöglichkeiten der Pflegeversicherung, wie gezielte Entbürokratisierung, wie die sachgerechte Abrechnung bestimmter Pflegeleistungen nach SGB V oder sogar die Verlegung bestimmter Leistungen in die öffentliche Hand: Könnte, wie Kordula Schulz-Asche von den Grünen es vorschlug, die Tagespflege analog zur Kindertagesbetreuung in das Quartiersmanagement eingebunden und so durch die Kommunen finanziert werden?
Die Branche braucht eine Kernsanierung, die nicht nur die Pflegeversicherung reformiert, sondern die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in den Blick nimmt und die Versorgungsstrukturen sektorenunabhängig modernisiert. 2021 wird das Jahr dieser Diskussionen sein, doch es steht fest, dass diese grundlegenden Veränderungen nicht mehr für die laufende Legislaturperiode sein können.
Text: Marie Kramp© Philip Schunke
Detlef Friedrich
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