Pflege neu gedacht: Ein Blick auf das aktuelle Pflegekompetenzgesetz

Eine junge Pflegekraft kniet neben einen älteren Frau im Rollstuhl und hält ihr ein Tablet hin.
Dienstag, 30 Juli 2024 10:55

Mehr Kompetenzen und Anerkennung für Pflegefachkräfte: Die 2023 veröffentlichte Arbeitsplatzstudie des IEGUS Instituts zeigt, dass eine Professionalisierung und erweiterte Kompetenzen im Pflegeberuf nicht nur die Attraktivität des Berufs steigern, sondern auch die Qualität der Versorgung verbessern können. Diese Themen stehen auch im Fokus des neuen Pflegekompetenzgesetzes. In diesem Artikel beleuchten wir, welche Veränderungen in diesem Zusammenhang notwendig sind und wie das Gesetz diese abdeckt. Außerdem gibt Pflegepolitik-Experte Prof. Dr. Matthias von Schwanenflügel seine Einschätzung zum aktuellen Gesetzentwurf.

Die Pflege ist ein zentraler Bestandteil unseres Gesundheitssystems, doch werden die Kompetenzen der Pflegefachpersonen oft nicht vollständig ausgeschöpft. Die Arbeitsplatzstudie von IEGUS, dem Forschungsinstitut für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft, aus dem Jahr 2023 hat deutlich gemacht, dass eine Professionalisierung und Erweiterung der Pflegekompetenzen entscheidend sind, um sowohl die Attraktivität des Berufs zu steigern als auch die Versorgungsqualität zu verbessern. Die vom Bundesministerium für Gesundheit vorgestellten Eckpunkte, die gerade in einen Entwurf für ein Pflegekompetenzgesetz eingearbeitet werden, sollen diese dringenden Anforderungen adressieren. Doch wie umfassend deckt das zukünftige Gesetz die erforderlichen Änderungen ab, und wie notwendig ist seine Einführung für die Weiterentwicklung der Pflegeberufe?

„Pflege kann mehr als sie darf“ – Karl Lauterbach

Die Eckpunkte für das Pflegekompetenzgesetz wurden im Dezember 2023 von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach vorgestellt. Der aktuelle Entwurf, der ursprünglich noch vor der Parlamentarischen Sommerpause des Bundestags, also vor dem 6. Juli 2024, vorgelegt werden sollte, umfasst neben der Verbesserung der Pflegekompetenzen auch die Förderung alternativer Versorgungsformen.

So könnte das Pflegekompetenzgesetz die Pflege professionalisieren:

  • Erweiterung der Befugnisse von Pflegefachpersonen, insbesondere in der häuslichen Pflege, z. B. das Verordnen von Wundversorgung, Salben und Kathetern, und der eigenständigen Vergabe von Pflegegraden. Pflegefachpersonen sollen, bei entsprechender Qualifikation, die Möglichkeit zur Wahrnehmung erweiterter Versorgungsaufgaben in der Regelversorgung bekommen. Dazu gehören Befugnisse im Bereich der (komplexen) Wundversorgung, der Versorgung von Menschen mit diabetischer Stoffwechsellage und von Menschen mit demenziellen Erkrankungen. Die Regelungen über die Modellprogramme werden aufgehoben.
  • Verstärkte Einbindung von Pflegefachpersonen in die Prozesssteuerung
  • Einführung des Berufsbilds der Advanced Practice Nurse mit entsprechenden Masterstudiengang und der Möglichkeit, dass Pflegefachkräfte mit einem Masterabschluss, selbstständig heilkundliche Tätigkeiten ausüben.
  • Etablierung einer zentralen berufsständischen Vertretung der Profession Pflege auf Bundesebene und Stärkung des Amts der Pflegebevollmächtigten.
  • Einführung einer neuen Wohnform namens „Stambulant“ als Hybridmodell zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, um Menschen mit Pflegebedarf in ihrer eigenen Wohnung umfassend bis zum Lebensende pflegerisch zu versorgen.

Mehr Kompetenzen = mehr Anerkennung?

Pflegefachpersonen sind durch ihre fundierte berufliche oder akademische Ausbildung und oft zusätzliche, umfassende Weiterbildungen hervorragend qualifiziert. Trotzdem dürfen sie viele ihrer Fähigkeiten rechtlich nicht eigenständig einsetzen, was ihre umfangreichen Kompetenzen ungenutzt lässt. Die Befragung beruflich Pflegender durch das IEGUS Institut im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums zeigt, dass Pflegefachpersonen sich eine stärkere Anerkennung und mehr Handlungsspielräume wünschen, die ihren tatsächlichen Fähigkeiten entsprechen. Eine erweiterte Autonomie könnte nicht nur die Berufszufriedenheit erhöhen, sondern auch die Pflegequalität verbessern. International übernehmen Pflegefachpersonen mit Bachelor- oder Masterabschluss oft eigenverantwortliche Aufgaben, entlasten dadurch Ärzt*innen und verbessern die Versorgung in multiprofessionellen Teams.

Die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärzteschaft ist für viele Pflegefachpersonen eine Herausforderung in der Ausübung ihres Berufs. Die Befragten heben eine fehlende Wahrnehmung ihrer Kompetenzen und fehlende Wertschätzung als Belastungen in dieser Zusammenarbeit hervor. Eine akademische Ausbildung sowie die Erweiterung von Kompetenzen und Übernahme von bisher Ärzt*innen vorbehaltenen Tätigkeiten wird deshalb von vielen Pflegefachpersonen auch als Chance begriffen, sich gegenüber anderen Berufsgruppen besser behaupten zu können und die Wahrnehmung von Pflege als Profession insgesamt zu stärken.

„Das Vorhaben hat das Potenzial, eine jahrzehntelange Diskussion über die Pflegeberufe entscheidend weiterzuentwickeln. Wir können nun begründet hoffen, dass ein Mehr an Kompetenzen auf die Pflege übertragen wird. Dieser Schritt stärkt die Pflege enorm. Pflege kann viel mehr, als sie heute darf!“ – Prof. Matthias von Schwanenflügel

Der Pflegberuf: Unklare Definitionen, verbesserungswürdige Karrierechancen

Pflegefachpersonen gaben im Rahmen der Studie zudem an, dass sie sich eine verstärkte Akademisierung des Berufs sowie bessere Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen wünschen. Derzeit bieten zahlreiche Ausbildungswege in der Pflege vielfältige Karrieremöglichkeiten, auch auf akademischem Niveau. Diese unterschiedlichen Ausbildungswege eröffnen viele Chancen, bringen jedoch auch Herausforderungen für die professionelle Pflege mit sich. Ein zentrales Problem bei der Akademisierung der Pflegeausbildung ist die unklare Definition der Einsatzgebiete für akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen. Es besteht daher Bedarf, die Funktionen akademisch ausgebildeter Pflegefachpersonen klarer zu bestimmen und wissenschaftliche Erkenntnisse stärker in die Praxis zu integrieren.

Für die Weiterentwicklung des Pflegeberufs ist es zudem entscheidend, universitäre Wege in der Pflegeforschung zu etablieren. In Deutschland befindet sich die Pflegewissenschaft noch im Aufbau. Um zukunftsfähig zu sein, fordern einige der Befragten aus der Studie bundesweit pflegewissenschaftliche Fakultäten, Promotionsprogramme und eine verstärkte Förderung der Pflegeforschung durch Bund und Länder.

Neben der akademischen Ausbildung muss laut der Befragten auch die generelle Weiterbildung und die Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Pflege intensiviert werden. Derzeit sind Fort- und Weiterbildungen oft wenig attraktiv: Es mangelt an Unterstützung und Finanzierung durch Arbeitgeber, und die erweiterten Aufgaben und Verantwortungsbereiche nach Weiterbildungen sind oft nur marginal. Karrierechancen finden sich häufig nur im Management außerhalb der direkten Pflegepraxis. Laut den Ergebnissen der Arbeitsplatzstudie sind kontinuierliche Weiterbildung und lebenslanges Lernen jedoch entscheidend, um den Pflegeberuf modern und attraktiv zu gestalten.

Interessenvertretung: Die Pflege muss mit einer Stimme sprechen

Die Befragten der Arbeitsplatzstudie hoffen, dass die Anerkennung der Pflege als eigenständige Profession dazu beiträgt, die Interessen von Pflegefachpersonen besser zu vertreten. Derzeit mangelt es jedoch an einer einheitlichen und wirkungsvollen Interessenvertretung für die beruflich Pflegenden. Auf entscheidenden Ebenen in Einrichtungen und in der Gesellschaft ist die berufliche Pflege bisher kaum präsent.

In diesem Zusammenhang werden auch Pflegekammern immer wieder erwähnt. Viele Befragte betrachten den Einsatz von Pflegekammern als entscheidend für die Weiterentwicklung der Pflegeprofession. Diese Berufsvertretungen könnten eine zentrale Rolle dabei spielen, die Interessen der Pflegefachpersonen zu bündeln und wirksam zu vertreten.

Neue Wege in der Versorgung mit „Stambulant“

Im zweiten Teil des Gesetzes soll eine neue Wohnform, „Stambulant“, definiert werden. Dabei wird es sich  um eine Mischform zwischen der ambulanten und stationären Versorgung handeln: Die Menschen behalten ihre eigene Wohnung, und es ist sichergestellt, dass sie bis zu ihrem Lebensende pflegerisch versorgt werden können.

„Die neue Wohnform kann Menschen mit Pflegebedarf neue, positive Möglichkeiten eröffnen und somit möglicherweise die Versorgungsqualität  erhöhen.“ – Prof. Matthias von Schwanenflügel

Ein Gesetzentwurf mit Transformationspotenzial

Die Ergebnisse der Arbeitsplatzstudie des IEGUS Instituts unterstreichen die dringende Notwendigkeit, die Professionalisierung und Kompetenzerweiterung in der Pflege voranzutreiben, indem sie klar die bestehenden Herausforderungen aufzeigen: Die unzureichende Anerkennung und Nutzung der umfassenden Kompetenzen der Pflegefachpersonen sowie die unklare Definition ihrer Einsatzgebiete, insbesondere für akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen.

„Die Eckpunkte adressieren diese Probleme, indem sie die Einführung des Berufsbilds der Advanced Practice Nurse vorsehen und den Ausbau pflegewissenschaftlicher Strukturen fordern. Der aktuelle Entwurf hat das Potenzial, den Pflegeberuf entscheidend zu stärken. Dennoch bleibt natürlich abzuwarten, wie effektiv das Gesetz diese Herausforderungen bewältigen kann und welche konkreten Auswirkungen auf die Praxis zu erwarten sind.“ – Prof. Matthias von Schwanenflügel

Eine umfassende Reform der Pflegeberufe erfordert nicht nur gesetzliche Änderungen, sondern auch eine tiefgreifende Neuausrichtung in der Wahrnehmung und Förderung der Pflegeberufe auf allen Ebenen. Kontinuierliche Weiterbildung und lebenslanges Lernen bleiben entscheidend, um den Pflegeberuf zukunftsfähig und attraktiv zu gestalten.

 

Prof. Dr. Matthias von Schwanenflügel ist Fellow beim IEGUS Institut. Der Jurist war zuvor in leitenden Funktionen im Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tätig.

Titelfoto: © Adobe Stock/ARMMY PICCA
Text: Matthias von Schwanenflügel/Katharina Ommerborn

Prof. Dr. Matthias von Schwanenflügel

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