„Pflege braucht echte Innovationen, Digitalisierung allein reicht nicht“ – Maxie Lutze im Interview
Maxie Lutze vom Institut für Innovation und Technik sieht die Pflegebranche am Scheideweg: Digitalisierung bietet Potenzial, doch allein wird sie nicht ausreichen, um den Wandel nachhaltig zu gestalten. In diesem Interview erklärt sie, warum technologische und soziale Innovationen Hand in Hand gehen müssen, um die Pflege effektiver, professioneller und zukunftsfähig zu machen. Ein aufschlussreicher Blick auf die Weichenstellungen, die jetzt getroffen werden müssen, um eine resiliente und innovative Pflege zu schaffen – nicht nur für heute, sondern auch für die Zukunft.
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Frau Lutze, wie schätzen Sie die Entwicklung der Pflegebranche in Deutschland ein?
Die Pflegebranche in Deutschland steht aktuell vor enormen Herausforderungen. Der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und unzureichende Rahmenbedingungen sorgen für Überlastung und Qualitätsprobleme. Pflegefachpersonen sind oft erschöpft, Familien geraten an ihre Grenzen, und die interprofessionelle Zusammenarbeit bleibt vielerorts ein unerfüllter Wunsch.
Digitale Technlologien bieten große Chancen, aber es fehlt an regulatorischen Vorgaben und Anreizen, die Innovationen in die Praxis bringen. Die Situation ist dabei sehr heterogen: Einige Organisationen sind Vorreiter, investieren in die Infrastruktur und sind gut aufgestellt. Anderen fehlen grundlegende technische Voraussetzungen wie WLAN und moderne Hardware. In der häuslichen Pflege ist digitale Unterstützung fast gar nicht vorhanden. Beispielsweise gibt es bisher keine zugelassenen Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) für den häuslichen Bereich, da der Nutzen oft nur schwer nachzuweisen ist.
Und wie sieht die Zukunft in zehn Jahren aus?
Das hängt davon ab, wie wir die aktuellen Herausforderungen angehen. Die Pflegebranche hat das Potenzial, in zehn Jahren deutlich professioneller, vernetzter und resilienter zu sein – vorausgesetzt, wir stellen jetzt die richtigen Weichen. Schlüssel dazu sind klare Kompetenzen, eine digital unterstützte Zusammenarbeit und strukturelle Veränderungen in der Branche.
Die Telematikinfrastruktur und Anwendungen wie die elektronische Patientenakte werden dabei zentral sein. Aber: Digitalisierung allein reicht nicht. Digitale Werkzeuge müssen Hand in Hand mit Reformen in den Bereichen Professionalisierung, Regulatorik und Organisationen gehen. Die interprofessionelle Kooperation, gut gestaltete Prozesse und die Einbindung aller Beteiligten sind entscheidend.
Wir werden außerdem besser geeignete Methoden und bessere Prozesse brauchen, um die Wirkung digitaler Technologien in der Pflege zu messen. Das bedeutet eine Kombination aus wissenschaftlich fundierter und praxisorientierter Evidenz. Es ist anspruchsvoll, aber auch notwendig, all diese Ansätze parallel voranzutreiben – nur so kann die Pflegebranche in Zukunft resilient und innovativ sein.
Welche digitalen Technologien sehen Sie als besonders vielversprechend für die Pflegebranche und worauf kommt es bei der Umsetzung an?
Vielversprechend sind Technologien, die Prozesse effizienter gestalten wie zum Beispiel sprachgestützte Dokumentation oder Pflegeanamnese. Sie erleichtern die Datenerfassung und senken Hemmschwellen, etwa für Nicht-Muttersprachler*innen. Auch digitale Dokumentationssysteme könnten durch Interoperabilitätsstandards zu Plattformen werden, die innovative Anwendungen integrieren.
Entscheidend ist zudem die Integration der Telematikinfrastruktur, insbesondere der elektronischen Patientenakte, als zentrales Element für die Vernetzung im Pflege- und Gesundheitswesen. Lösungen wie Telepflege, Monitoring-Dienste und Apps für pflegende Angehörige bieten neue Möglichkeiten, räumliche Distanzen zu überwinden und die Pflegekoordination zu erleichtern. Datenanalysen und künstliche Intelligenz könnten die Bedarfsanalyse, Pflegediagnose und Ressourcenplanung fundamental unterstützen. Entscheidungsunterstützungssysteme sind hier besonders vielversprechend, auch wenn sie noch Entwicklungsarbeit erfordern.
Für eine erfolgreiche Umsetzung ist es unerlässlich, Prozesse kritisch zu hinterfragen und Technologien gezielt dort einzusetzen, wo sie tatsächlich einen Mehrwert schaffen. Wichtig ist, die Pflege stärker an den Bedarfen und Bedürfnissen der Pflegebedürftigen auszurichten – das muss immer im Mittelpunkt stehen.
Wie unterscheiden sich technische und soziale Innovationen und warum sollten sie zusammen gedacht werden?
Technische Innovationen wie die elektronische Patientenakte oder Sensorik zielen darauf ab, Prozesse effizienter zu gestalten und Pflegepersonal zu entlasten. Soziale Innovationen wie interprofessionelle Teams oder neue Arbeitsmodelle beeinflussen hingegen die Organisation und Zusammenarbeit in der Pflege.
Diese beiden Ansätze ergänzen sich ideal: Technologische Werkzeuge entfalten ihr volles Potenzial nur, wenn sie in angepasste Strukturen und Prozesse eingebettet werden. Umgekehrt profitieren soziale Innovationen von technischer Unterstützung, die ihre Umsetzung erleichtert und nachhaltiger macht.
Ein beeindruckendes Beispiel kommt aus Südkorea: Während der COVID-19-Pandemie wurde ein Service entwickelt, der Gesundheitschecks automatisiert durchführte. Er wurde später angepasst, um alleinlebende ältere Menschen zu unterstützen. Der Service simuliert realistische Gespräche, erkennt regionale Dialekte und erstellt systematische Berichte. Damit wird eine präventive Pflegeplanung ermöglicht.
Dieser Ansatz zeigt, wie technische und soziale Innovationen zusammen transformative Effekte erzielen können. Sie schaffen nicht nur neue Standards, sondern verändern auch die Rollen und Kompetenzen der Akteure in der Pflege – teilweise grundlegend. Wichtig ist dabei, die Sicherheit und Akzeptanz der Pflegebedürftigen stets in den Mittelpunkt zu stellen.
Gibt es ein Modellprojekt, das Sie besonders beeindruckt hat?
Es gibt viele spannende Projekte, die zeigen, wie Veränderung in der Pflege gelingen kann. Besonders beeindruckend finde ich Ansätze, die nicht nur Technologien einführen, sondern deren Anwendung gezielt reflektieren. Einblicke aus Dänemark und den Niederlanden haben mir verdeutlicht, wie entscheidend Kooperationen sind. Zwei Aspekte stechen dabei hervor: Zum einen der Austausch zwischen Organisationen, um voneinander zu lernen. Zum anderen die enge Zusammenarbeit mit Forschenden und kommunalen Strukturen. Solche Partnerschaften helfen nicht nur, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse weiterzuentwickeln, sondern auch neue Trends und Technologien besser zu verstehen und aktiv mitzugestalten.
Hier werden Technologien nicht einfach implementiert, sondern als Teil eines größeren Systems verstanden. Zukunft lässt sich wunderbar in unterschiedlichen Projekten erfahrbar machen. Sie bieten den Raum, Prozesse und Verantwortlichkeiten zu gestalten und das Pflegepersonal von Anfang an einzubinden.
Ein gutes Beispiel sind die Maßnahmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, etwa das Cluster Zukunft der Pflege oder die Initiative KI-Systeme im Pflegealltag. Sie zeigen, wie interprofessionelle, datenbasierte und zugleich menschliche Ansätze die Zukunft der Pflege prägen können. Solche Projekte verdeutlichen, dass digitale Technologien ihr Potenzial erst dann entfalten, wenn sie durch kluge Anwendung und nahtlose Integration den Alltag ergänzen.
Danke für das Gespräch, Frau Lutze!
Zur Person:
Maxie Lutze studierte Medieninformatik und Human Factors in Berlin und Südkorea. Seit 2011 ist sie Beraterin am Institut für Innovation und Technik (iit) und leitet die Gruppe „Demografischer und sozio-digitaler Wandel“. Sie berät in führender Expertenposition Bundes- und Landesministerien sowie innovationspolitische Organisationen und Verbände des Gesundheitswesens. Im Fokus ihrer Arbeit stehen Politikansätze, die Anreize für Lösungen gesellschaftlicher Herausforderungen schaffen. Bei der Beschäftigung mit Innovationssystemen und Implikationen der Digitalisierung liegt ein Schwerpunkt auf der Untersuchung von Innovationen im Bereich Pflege und Digitalisierung (Digital Care).
Redaktion: Katharina Ommerborn
Eva Lettenmeier
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