„Pflege braucht Luft zum Atmen!“ – Eva Lettenmeier fordert weniger „Korsett“ für die Branche

Montag, 04 November 2024 16:11

Eva Lettenmeier, seit Oktober 2024 neue Geschäftsbereichsleiterin für den Bereich „Pflegewirtschaft“ bei contec, plädiert im Interview für selbstkritische Zuversicht, frischen Wind und mehr Elastizität im Pflegesystem. Sie erklärt, warum Pflege nie aus der Mode kommt, fordert ein „Lüften“ verkrusteter Teamdynamiken und weniger starre Vorgaben. Während sie offen über die Herausforderungen der Branche spricht, betont sie auch die Chancen, die unter anderem das Projekt PeBem bietet, um neuen Schwung in die Pflege zu bringen – ein Einblick in eine Branche im Aufbruch.

Gefühlt ist die Pflegewirtschaft konstant in der Krise. Wie gehen Sie als Expertin und Geschäftsbereichsleitung damit um? Ist es nicht auch belastend, eine Branche zu beraten, in der die Aussichten so düster scheinen?

Eva Lettenmeier: Die Aussichten sind nicht düster! Da widerspreche ich vehement. Wir werden gebraucht. Wir können nicht nach China ausgelagert und wir können nicht komplett automatisiert werden. Die KI kann viel, aber sie kann den Pflegeprozess nicht komplett mit all seinen Dimensionen übernehmen. Dass es keine Menschen geben wird, die uns brauchen, dass unsere Dienstleistung irgendwie aus der Mode kommt, fürchte ich auch nicht. Also: Für viele Branchen sieht die Situation viel düsterer aus, wenn Sie mich fragen. In der Autoindustrie möchte ich jetzt nicht sein.

Da müssen wir nochmal nachhaken: Insolvenzen, Personalnot, Kostenexplosionen für die Pflegeversicherung, Versorgungslücken… die Hiobsbotschaften in den Medien nehmen kein Ende.

Eva Lettenmeier: Ich werde nicht müde, zu betonen, dass viele dieser Entwicklungen, so wie der Klimawandel, menschengemacht sind; daher könnten sie auch von Menschen beeinflusst werden. Wir haben Jahr für Jahr Gesetze verabschiedet und Verordnungen in den Ländern erlassen, die zur heutigen Situation geführt haben. Die demografische Entwicklung ist dabei sicher relevant, aber nicht neu, und man hätte sie einkalkulieren können.

Ich bin seit bald 25 Jahren im Bereich Pflege und Dienstleistungen für Senior*innen unterwegs, und stets wurde der Notstand ausgerufen, was reflexhaft zu einer Steigerung der Vorgaben,Portrait von Eva Lettenmeier, Geschäftsbereichsleitung Pflegewirtschaft der contec Standards, Kontrollen, Bürokratismen, Quoten und Anforderungen führte. Die ersten 28 Jahre ging alles ziemlich langsam vonstatten, war irgendwie Stück für Stück von allen zu verdauen. Aber als dann zu all diesen gesetzlichen Veränderungen auch noch Corona, der Ukraine-Krieg und die Energiekrise kamen, hatte das System keine Elastizität mehr, weil der Druck zu hoch wurde und kein Ventil mehr da war. Damit wäre ich bei meiner zentralen Forderung: weniger Korsett, mehr Flexibilität, die Luft zum Atmen für die Versorgung vor Ort schaffen und den Pflegefachpersonen endlich die Verantwortung zutrauen, die sie ohnehin tragen.

Dass viele Einrichtungen nicht ausreichend Mitarbeitende in der Pflege finden und daher ihre Angebote einschränken, ist in der heutigen Dramatik aber ein neues Problem. Sie waren ja auch lange Personalchefin in einem großen Pflegekonzern. Was ist denn Ihr Rezept für Mitarbeitergewinnung und -bindung in der Pflege?

Eva Lettenemeier: Das eine Rezept gibt es natürlich nicht. Oder anders gesagt: Es gelingt nur, wenn viele Dinge sehr gut ineinandergreifen. Gutes Arbeitgebermarketing nutzt nichts, wenn man die absolut datengetriebenen Recruiting-Wissenschaften nicht beherrscht und Einzelanzeigen bei Stepstone bucht. Schöne Geburtstagskarten sind sinnlos, wenn sie ohne ein Lächeln übergeben werden. Ein gutes Betriebsklima hilft nichts, wenn die Dienstplanung ohne System „dahingeschludert“ wird und am 30. der Plan für den kommenden Monat noch fehlt. Eine faire Arbeitsorganisation ist genauso wichtig wie ein transparentes und faires Vergütungsmodell. Es braucht Expertise, Prozesse, aber auch datengetriebene, vorausschauende Personalarbeit.

Wo immer ich besondere Personalprobleme in Einrichtungen beobachtet habe, kamen allerdings ganz hausgemachte „kulturelle“ Phänomene dazu. Eine Art „anaerobe Teamdynamik“. Das passiert, wenn man Teams in der Pflege erlaubt, sich abzuschotten und einen Kokon um sich herum zu spinnen. Pflege ist hier etwas anfällig, weil sich das zunächst fürsorglich und warm anfühlt, die Grenze zum Übergriffigen ist dann aber schwer zu identifizieren. Führungskräfte darf man damit nicht alleine lassen und muss das Thema sehr strukturiert angehen. Das ist kein „weicher“ Faktor, sondern gefährdet Standorte, wenn es nicht gelingt, Nachwuchs oder auch neue Mitarbeiter*innen dauerhaft zu integrieren. Hier sind Einfühlungsvermögen, aber auch Klarheit gefordert.

So wie Sie das schildern, macht das die Bedeutung der Führungskraft, der Pflegedienstleitung, der Einrichtungsleitung, noch größer.

Eva Lettenmeier: Ich bin aus eigener, langjähriger Erfahrung aber eine Gegnerin der Aussage: „Man muss nur die richtige Leitungskraft finden, dann läuft es schon.“ Wie erwähnt, gibt es Situationen und Problemlagen, die ein Team und Unterstützung erfordern. Personalarbeit muss akzeptieren und antizipieren, dass Menschen, die alles retten und richten, ausgesprochen rar sind. Es ist unverantwortlich und kann nicht die Basis für ein Geschäftsmodell sein, wenn auf Organisationsentwicklung, Strukturen, Prozesse und eine breite Teamentwicklung zugunsten des oder der ‚einen‘ an der Spitze verzichtet wird.

Dieses Denken ist bei uns wahrscheinlich so stark verankert, weil die Heil- und Sorgeberufe in den caritativen Einrichtungen und Verbandsstrukturen stark auf die Führungspersönlichkeiten ausgerichtet sind. Wo Ärzt*innen in den Organisationen eine Rolle spielen, sowieso. Man muss noch gar nicht von New Work oder agiler Organisation sprechen: Das Management einer Pflegeeinrichtung ist in der Regel kein Job für eine einzelne Person; es muss ein Team- und Netzwerkgedanke selbstverständlich werden. Wie in PeBem: Kompetenzorientierter Personaleinsatz – auch an der Spitze.

Das wäre jetzt sowieso unsere letzte Frage gewesen: contec begleitet das Modellprojekt zur Erprobung der Personalbemessung unter der Leitung von Prof. Heinz Rothgang. Hatten Sie bereits Gelegenheit, die Ergebnisse zu sichten?

Eva Lettenmeier: Zum einen muss man Heinz Rothgang einfach mal dankbar sein, dass er den heiligen Gral der 50%-Fachkraftquote perforiert hat, von dem wir alle dachten, er sei ewig. Das zuständige contec-Team hat mir schon viel berichtet, und ich werde nun Modelleinrichtungen besuchen und bin gespannt auf die Reflexionsworkshops. Allerdings habe ich mich bei meinem vorherigen Träger, wie viele andere auch, bereits intensiv mit stationärer Tourenplanung und einer entsprechenden Organisations- und Personalentwicklung beschäftigt.

Ich verstehe, dass viele sich vor diesem Einschnitt fürchten. Wenn es schiefgeht, steht man vor einem Scherbenhaufen. Daher rate ich dringend davon ab, es auf gut Glück zu versuchen, indem man ein Buch liest und neben dem Tagesgeschäft einfach mal PeBem einführt. Es fängt ja schon damit an, dass keine zwei Menschen vom Gleichen sprechen, wenn sie „Einführung von PeBem“ sagen. Für mich ist PeBem der unumgängliche Einstieg in eine transparente, faire, am Bewohnerbedarf und den Kompetenzen der Pflegenden ausgerichtete Organisation. Damit schaffen wir die Voraussetzung für Mitarbeiterattraktivität, Digitalisierung, die Möglichkeit, gleichzeitig verlässlich, aber auch situativ mit den knappen Ressourcen umzugehen – einfach die Grundlage, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Vielen Dank für das Gespräch, Eva Lettenmeier!

Foto: AntonioDiaz/Adobe Stock

Eva Lettenmeier

Portrait von Eva Lettenmeier, Geschäftsbereichsleitung Pflegewirtschaft der contec

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