Auf dem Weg zur einheitlichen Personalbemessung in der Pflege
Die Debatte um die Einführung eines einheitlichen Personalbemessungsverfahrens in Pflegeeinrichtungen ist keineswegs eine neue – und doch eine brandaktuelle. Beim „15. contec forum“ zum Jahresbeginn 2019 stellte Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen im Rahmen eines Workshops seine Herangehensweise an die Entwicklung eines neuen Verfahrens vor und berichtete von ersten Erkenntnissen für die Praxis. Rothgangs Projekt fußt auf dem im PSG II formulierten Gesetzesauftrag zur Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur Personalbemessung „nach qualitativen und quantitativen Maßstäben“ bis Juni 2020 (§ 113c SGB XI). Den Auftrag erhielten Rothgang und sein Team vom „SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik“ nach europaweiter Ausschreibung.
Chancen und Risiken eines Verfahrens zur Personalbemessung
Die Ausgangssituation, die das Projekt in Betracht zieht, ist zum einen die derzeit unterschiedliche Personalausstattung in den Bundesländern, die deshalb problematisch ist, da sie nicht fachlich begründet werden kann. Aktuell folgt die Bemessung in den Ländern unterschiedlichen Regeln: Es werden Personalschlüssel, entweder als Korridore oder als Punktwerte festlegt, es gibt jedoch auch diverse Sonderbestimmungen und Fußnoten. Bei dem geplanten neuen Verfahren legt Rothgang besonderen Wert auf die Transparenz. Zum anderen nimmt das Projekt aber auch die generell zu niedrige Personalausstattung in der Pflege in den Blick, die als Konsens betrachtet werden kann. Das neue Verfahren kann Abhilfe schaffen, indem es eine ausreichende Mindestpersonalausstattung sicherstellt.
Dass ein solches Verfahren auch Risiken birgt, lässt Rothgang nicht unerwähnt. Zum einen seien Versuche zur Einführung eines einheitlichen Verfahrens bislang stets gescheitert (zuletzt mit dem kanadischen System PLAISIR), was dann längerfristig zu einem Einfrieren der Debatte geführt habe. Zum anderen bestehe die Gefahr, dass ein Verfahren sich als Korsett entpuppt und damit innovativen Trägern Gestaltungsspielräume, gerade auch im Hinblick auf das Thema Professionenmix, verwehren könnte. Dem möchte er in der Entwicklung des Verfahrens bereits entgegenwirken. In diesem Sinne sollen die Ergebnisse des Bemessungsverfahrens nicht als in Stein gemeißelt betrachtet werden, sondern eher die Grundlage für Festlegungen in Landesrahmenverträgen bieten. Es geht also um ein bundeseinheitliches Verfahren, das aber – durch den Einbau von Stellschrauben – keine bundeseinheitlichen Werte generiert.
Das geplante Verfahren basiert auf einer Kombination von empirischen und analytischen Vorgehensweisen, um sowohl die Verteilungs- als auch die Bedarfsgerechtigkeit angemessen erfassen zu können. Nach einer theoretischen Forschungsphase erfolgte 2018 eine umfassende Feldstudie, bei der 242 Datenerheber/innen in 62 Wohnbereichen vollstationärer Einrichtungen bundesweit im Einsatz waren und Bezugspflegekräfte bei der Arbeit ‚beschatteten‘. Es wurde dabei der durchschnittliche IST-Zustand erhoben und pflegefachlich bewertet (IST-SOLL-Abgleich), um zu einem SOLL-Zustand hinsichtlich der Personalausstattung zu gelangen. Die Erhebungsinstrumente wurden zuvor durch eine breite Basis von Akteur/innen mit entsprechender Expertise konsentiert.
Der Algorithmus muss nicht das letzte Wort haben
Zusammengefasst soll am Ende des Verfahrens ein Algorithmus entstehen, der einrichtungsindividuelle und zeitvariante Personalmixe errechnen kann. Die Inputvariable des Verfahrens ist die individuelle Pflegebedürftigenstruktur einer Einrichtung. Hier wird die Anzahl der Pflegebedürftigen, aber auch die, unter Rückgriff auf das neue Begutachtungsinstrument (NBA), festgestellte Schwere der Pflegebedürftigkeit in Betracht gezogen. Bei den Interventionen unterscheiden sich individuell die Faktoren Menge, Zeit und benötigte Qualifikation, zusätzlich werden aber auch fachlich ergänzende Faktoren einbezogen. Aus der Summe aller Pflegebedürftigen einer Einrichtung kann dann die „Outputvariable“ errechnet werden, also die Personalmenge und -struktur, die zur fachgerechten Pflege nach dem jeweiligen Case-Mix erforderlich ist.
Das Ergebnis der Berechnung, so betont Rothgang, müsse nicht immer zwingend „das letzte Wort“ sein. Hier könne es anschließend im Einzelnen fachliche Diskussionen und Verhandlungen geben. Da Bachelor/Master-Qualifikationen in der Feldstudie nicht vorkamen, müsse das Ergebnis dahingehend beispielsweise noch fachlich überprüft werden. Auch bei dem neuen Verfahren müsste man noch festlegen, in welchen Zeiträumen jeweils neue Berechnungen erfolgen sollen.
Wenngleich noch keine Ergebnisse vorliegen, geht Rothgang davon aus, dass seine Studie in der Feststellung eines höheren Personalbedarfs resultieren wird. Damit habe das Projekt zwar seine Aufgabe erfüllt, doch könne es laut Rothgang kaum ohne die Frage nach den Konsequenzen für die Finanzierung gedacht werden: „Jede Erhöhung der Entlohnung für die Pflegekraft, jede Entlastung durch eine zusätzliche Stelle muss derzeit die Person im Bett finanzieren.“ Rothgang wirbt deshalb für den aus seiner Sicht einzig zukunftsfähigen Weg einer systematischen Reformoption: die Umwandlung der Pflegeteilkostenversicherung in eine Vollversicherung mit Sockelbetrag (bzw. sogar in eine reine Vollversicherung). Bei einem Sockel-Spitze-Tausch befürwortet er zudem eine Karenzzeit, d. h. die Fixierung des Sockels in zeitlicher Sicht, weil die Dauer der Pflege nicht vorhersehbar ist.
Was die Akzeptanz solcher Überlegungen in der aktuellen politischen Debatte angeht, zeigte sich Rothgang positiv überrascht und vorsichtig optimistisch. Wenn sich aus der Studie tatsächlich eine Erhöhung des Personals ergebe, sei aber auch zu bedenken, dass die Qualität einer Einrichtung dadurch nicht automatisch besser werde. Es müssten Prozesse definiert und Übergangsphasen gestaltet werden. Er denkt dabei an eine Konvergenzphase wie auch bei der Einführung der DRGs.
Personalbemessung – ein Thema, das die Branche bewegt
Die auf Rothgangs Ausführungen folgende Diskussion war lebhaft, aber nicht kontrovers. Dennoch war eine gewisse Skepsis der Teilnehmenden vernehmbar, auch da es sich nicht um den ersten Anlauf für ein Personalbemessungsverfahren handelt. Von Seiten der BGW kam eine Rückfrage hinsichtlich der Berücksichtigung von Aufgaben für gesundheitsgerechtes Arbeiten in der Personalbemessung. Entsprechende Aspekte seien, laut Rothgang, bei der Definition von Teilschritten und Anforderungen für die einzelnen Interventionen grundsätzlich berücksichtigt, allerdings habe in diesem Kontext die Interaktionsarbeit im Fokus gestanden. Weitere Arbeitsschutzaspekte könne man zudem im „fachlich ergänzenden Bereich“ berücksichtigen.
In der Diskussion ergaben sich weitere Anregungen für diesen fachlich ergänzenden Bereich wie die Einbindung organisationstheoretischer Konzepte. Eine weitere Rückfrage betraf die Berücksichtigung ambulanter Dienste im Rahmen des Projekts. Rothgang sieht eine Personalbemessung hier kritischer, da im ambulanten Bereich Leistungskomplexe mit den hinterlegten Zeitwerten individuell vereinbart werden und so Bedarfsgerechtigkeit nicht abschließend geprüft werden könne. In einem Unterprojekt der Personalbemessungsstudie wird jedoch auch die ambulante Pflege thematisiert, sodass es hier Ergebnisse geben wird, aber in einem viel kleineren Rahmen.
Insgesamt geht Rothgang nicht von einer schnellen Umsetzung des Verfahrens nach seiner Entwicklung aus: „Wichtig wäre, dass 2020 überhaupt eine Entscheidung dafür getroffen wird, dass wir diesen Weg weitergehen.“ Rothgangs Appell an „uns alle“ lautet in diesem Kontext: „Behalten Sie im Auge, was 2020 passiert. Wenn das Ergebnis der Studie deutlich besser ist als das jetzige System, sorgen Sie mit dafür, dass der Druck für eine Umsetzung erhöht wird.“ Die große Anzahl der Teilnehmenden des Workshops – rund 50 Personen – und die Fragerunde lassen in jedem Fall darauf schließen, dass die Diskussion um die Personalbemessung die Branche sehr bewegt und durchaus auch beunruhigt.
Text: Linda EnglischEva Lettenmeier
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