„Wir müssen das Pflegesystem ganz neu denken“ – Melanie Philip im Interview

Donnerstag, 30 Juni 2022 17:08

Die Bedeutung regionaler Pflegestrukturen wächst – auch im Koalitionsvertrag spielt die regionale Pflegeversorgung eine wichtige Rolle, z. B. im Rahmen von Quartiersprojekten und der neu geschaffenen Community Health Nurse. Ziel ist es, mit regionaler Vernetzung die Auswirkungen des Pflegenotstands in den nächsten Jahren abzumildern. Wie das gelingen kann und welche Schritte jetzt notwendig sind, um die Pflege regional und somit zukunftsfähig zu gestalten, hat uns Melanie Philip, Geschäftsführerin der Pflegepioniere, im Interview erzählt. 

Melanie Philip ist Gerontologin und hat 2019 gemeinsam mit ihrem Kollegen Philipp Zell die Pflegepioniere gegründet. Sie und ihr Team unterstützen Pflege- und Gesundheitsunternehmen dabei, sich zukunftsfähig aufzustellen. Melanie Philip begleitet zudem seit über 15 Jahren zahlreiche Projekte, mit denen sie soziale Innovationen in der Pflege vorantreibt, u. a. im Bereich der Telepflege und der digitalen Vernetzung.

Frau Philip, die regionale Vernetzung in der Pflege rückt zunehmend in den Fokus – das zeigt sich u. a. auch im Koalitionsvertrag. Warum braucht die Pflege in Deutschland mehr regionale Vernetzung?

Melanie Philip: Die regionale Vernetzung ist für die Gesundheitsversorgung – besonders im ländlichen Raum – zentral, denn dort ist die Versorgung heute schon in einem sehr schlechten Zustand: Es gibt Regionen, in denen es nur noch zwei praktizierende Hausärzt*innen für fünf oder sechs Gemeinden gibt – und die sind meist schon in Rente. Vor den Hausarztpraxen bilden sich lange Schlangen. Menschen warten mehrere Monate auf einen Termin. Diese Situation haben wir bislang ignoriert, weil es zwar gedauert hat, bis man einen Arzttermin oder eine Pflegekraft bekommen hat, aber es immer noch Termine und Fachkräfte gab. Wir kommen jetzt an einen Punkt, an dem sich das ändert. Das ist für viele erschreckend, war aber aufgrund der demografischen Entwicklung vorhersehbar. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Pflegebedürftige auf dem Land bald keine Gesundheitsversorgung mehr bekommen werden. Auch die professionelle Pflege wird für sie keine ausreichenden Angebote mehr machen können. Das bedeutet auch, dass Angehörige wieder mehr pflegen müssen. Das sind dann wiederum die Fachkräfte, die der Wirtschaft fehlen werden – und ohne Fachkräfte werden Unternehmen abwandern. Darüber hinaus ist die Gesundheitsversorgung ein zunehmend wichtiger Standortfaktor für die Fachkraftansiedlung. Regionen ohne Kinderärzt*innen oder ohne eine ambulante Pflegeversorgung vor Ort sind für Arbeitnehmer*innen, die ihre Familien mitbringen, nicht attraktiv.

Für die Region hängt also sehr viel von einer guten Gesundheitsversorgung ab und viele Akteure sind betroffen, deswegen müssen sie in der Region stärker zusammenarbeiten.

Wie bewerten Sie die bisherige Entwicklung regionaler Pflegeversorgungsstrukturen?

Die größte Herausforderung ist, dass wir derzeit nicht über die notwendigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen verfügen, die wir brauchen, um die regionale Gesundheitsversorgung vorantreiben zu können. Im Koalitionsvertrag finden sich gute Ideen wie die Community Health Nurse. Aber es fehlen grundlegende Bedingungen für die praktische Umsetzung: Welche Aufgaben darf eine Community Health Nurse überhaupt übernehmen? Wie kann sie über die Pflegekasse abgerechnet werden? Hier fehlen Strukturen, Rahmen und finanzielle Mittel. Und es braucht tiefgreifende Veränderungen, z. B. im Leistungsrecht. Das ist u. a. auch unser Thema im IPAG Expert:innenrat. Dort vertreten wir die Meinung, dass die professionelle Fachpflege ein eigenes Leistungsrecht braucht, um in Zukunft auskömmlich finanzierbar zu sein und auch um vollständig in der Gesundheitsversorgung berücksichtigt werden zu können. Mit kleinen Reformen können wir den Pflegenotstand und den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung – besonders im ländlichen Raum – nicht verhindern. Wir müssen das Gesundheits- und Pflegesystem ganz neu denken und entwickeln. Unsere Forderungen dazu werden bald veröffentlicht.

Wenn wir von regionalen Pflegestrukturen sprechen, dann müssen wir natürlich auch die Rolle der Kommunen betrachten, in denen die Infrastruktur aufgebaut werden soll. Welche Verantwortung haben die Kommunen Ihrer Meinung bei der Gesundheitsversorgung? 

Melanie Philip: Es ist überfällig, dass die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung in die Hände der Kommunen gelegt wird. Hier geht es um Daseinsvorsorge. Doch auch hier ist die Finanzierung ein großes Problem. Vielen Kommunen fehlen die finanziellen Mittel, um Gesundheitsstrukturen zu erhalten und neu aufzubauen. Trotzdem sehe ich die Gemeinden ganz klar in der Verantwortung, denn: Wenn sie jetzt nicht in ihre regionale Gesundheitsversorgung investieren, dann werden sie in Zukunft keine gesundheitliche Versorgung vor Ort mehr haben. Und das bedeutet auch, dass zuerst Fachkräfte und dann Unternehmen abwandern werden. Mein Appell gegenüber den Kommunen lautet daher: Nehmt die gesundheitliche Versorgung jetzt selbst in die Hand. Ich kann natürlich nachvollziehen, dass der finanzielle Aspekt den Kommunen Sorgen bereitet, aber sie müssen damit in die Verhandlungen um Grundfinanzierung und Fördermittel gehen.

Was können Kommunen konkret tun, um die Gesundheitsversorgung in ihrer Region zu stärken?

Melanie Philip: Im Rahmen eines Projekts erstellen wir zurzeit gemeinsam mit einer Kommune in Niedersachsen einen Bericht zur Pflegesituation vor Ort. Wir schauen uns u. a. an, wie viele Pflegedienste es gibt, wie sie in der Region verteilt sind und welche Standorte unterversorgt sind. Wir bilden also zunächst den Status quo ab. In einem nächsten Schritt planen wir für die Zukunft: Wie viele Pflegekräfte braucht die Kommune voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren, um die Nachfrage zu decken? Welche Krankheitsbilder sind in der Region häufig zu finden und wie müssen sich Pflegedienste dementsprechend qualifizieren? Wenn die Kommune das weiß, dann kann sie z. B. Stipendien für Azubis bereitstellen, Anreize für Pflegekräfte und Pflegedienste schaffen und dafür sorgen, dass sich eine Pflegekraft mit ihrer Familie in der Region wohlfühlen kann. Die Verantwortung für den Fachkräftemangel und die schwierige Versorgungssituation wurde bisher auf die Pflegeunternehmen abgewälzt – das kann nicht so weitergehen. Wenn in einer Region Fachkräfte fehlen und die Pflegeanbieter daraufhin Mitarbeitende anwerben, auch aus dem Ausland, dann sollte die Kommune die Unternehmen z. B. dabei unterstützen, Wohnungen für die Zugezogenen zu finden. Das Grundproblem ist hier die Verantwortungsdiffusion – niemand fühlt sich so richtig verantwortlich. Diese Zusammenarbeit war bisher auch nicht gewollt, jetzt wird sie aber stattfinden müssen.

Sie sagten schon, dass auch die Wirtschaft einer Region ein großes Interesse an einer guten Pflege- und Gesundheitsversorgung hat. Wie hängt das zusammen und wie können sich wirtschaftliche Akteure einbringen?

Wir haben es mit einer Entwicklung zu tun, die auch die Wirtschaft nicht unterschätzen darf. Ich sage immer: Früher musste ich meine Kinder mit zur Arbeit nehmen, bald sind es meine Eltern – und zwar, weil ich keine Pflegekräfte mehr finden werde, die die Versorgung übernehmen. Manche Studien besagen, dass schon die Betreuung eines/einer Pflegebedürftigen im Durchschnitt rund 1-2 Stunden pro Tag an Zeit benötigt, die dem/der Angehörigen für die Ausübung des Berufs fehlen. Dem Zentrum für Qualität in der Pflege[1] zu Folge schränken pflegende Angehörige ihre Erwerbstätigkeit daher mit zunehmender Dauer und steigendem Pflegeaufwand ein oder geben sie ganz auf. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Menschen, die Angehörige pflegen, ihre Arbeitszeit in den meisten Fällen auf 30 Stunden reduzieren. Für viele Branchen, in denen es schon heute einen großen Fachkräftemangel gibt, wird das eine enorme Herausforderung sein. Damit den Unternehmen in Zukunft keine Fachkräfte fehlen, sollten sie daher Angebote für pflegende Angehörige entwickeln, damit diese Beruf und Pflege unter einen Hut bringen können.

Wie könnten diese Angebote konkret aussehen?

Melanie Philip: Menschen, die ihre Angehörigen pflegen und gleichzeitig einen Beruf ausüben, benötigen Entlastung. Schulungen für pflegende Angehörige oder Freistellungsangebote und Lohnzusatzprogramme, z. B. in Form des Pflegegelds oder von Pflegetagen, können in einer solchen Situation eine große Stütze sein. Die Beobachtungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen in Europa[2] hat dazu einen spannenden Bericht im Rahmen eines europäischen Kongresses geschrieben. Dieser beinhaltet einen Überblick sowie Erfahrungswerte unterschiedlicher europäischer Vereinbarkeitsinstrumente. Der Bericht zeigt aber auch auf, dass ganzheitliche Ansätze und notwendige Entlastungen noch zum Teil fehlen.

Damit Unternehmen Maßnahmen entwickeln können, die wirklich zur Entlastung beitragen, ist es besonders wichtig, Wirtschaft und Gesundheitsunternehmen über eine grundlegende Infrastruktur stärker zu vernetzen, z. B. über eine Televersorgungsinfrastruktur, die Wirtschaft, Krankenhäuser, Hausärzt*innen, Pflegedienste, Angehörige usw. zusammenbringt. Das kann über einen gemeinsamen Gesundheitsfonds finanziert werden, in den die Unternehmen einer Region einzahlen. Über den Fonds wird der Zugang der Unternehmen zur Gesundheitsinfrastruktur finanziert.

Durch die stärkere Zusammenarbeit mit der Gesundheitswirtschaft eröffnen sich auch neue Möglichkeiten für Unternehmen, individuelle Angebote für Mitarbeitende zu schaffen: Sie können vielleicht vergünstigte Assistenzsysteme für pflegende Angehörige bereitstellen oder regelmäßige Beratungen und Schulungen durch Fachkräfte anbieten. Für große Unternehmen lohnt es sich unter Umständen auch, vor Ort ein Online-Sprechzimmer einzurichten. Für solche Maßnahmen braucht es die Vernetzung und Zusammenarbeit aller Akteure.

Die regionale Vernetzung ist wichtig, um die Pflegeversorgung vor Ort aufrechtzuerhalten. Wie kann man die Akteure zusammenbringen, insbesondere auf dem Land? Wie kann regionale Vernetzung aussehen?

Melanie Philip: Im ländlichen Raum haben wir vielerorts nur noch wenige Pflegedienste, die regional nicht unbedingt miteinander vernetzt sind. Wir könnten die Pflege im Quartier effizienter gestalten, wenn die Pflegeanbieter die Möglichkeit hätten, sich besser abzusprechen – und zwar mit digitaler Unterstützung. Unsere App „PIO – Pflege Ideal Organisiert“, ist eine Plattform, auf der Pflegebedürftige und Pflegedienste zueinanderfinden, die ausgehend von bestimmten Kriterien zueinanderpassen. Die App berücksichtigt nicht nur die räumliche Distanz, sondern auch, ob der Pflegedienst den Service anbietet, den der oder die Pflegebedürftige benötigt.

Auch die Kommunen werden hier zukünftig miteinbezogen – wahrscheinlich über die Pflegestützpunkte: Einmal pro Jahr bekommen sie einen anonymen Bericht darüber, wie lange Pflegebedürftige im Durchschnitt auf der Plattform auf einen Pflegedienst warten. Außerdem erhalten sie zukünftig eine Meldung, wenn ein*e Pflegebedürftige*r nicht vermittelt wird. Die App bildet also auch zum Teil die Unterversorgung in der Region ab und begegnet dieser mit einer Verantwortungskette. Aus diesen Informationen können wiederum Maßnahmen abgeleitet werden: Die Kommunen können Anreize setzen, damit Pflegedienste auch Personen betreuen, die sehr weit von ihrem Standort entfernt sind. Gleichzeitig können die Wirtschaftsförderung oder die Krankenkassen Anreize setzen, damit sich Pflegedienste in Bereichen niederlassen, die unterversorgt sind. Vieles ist möglich: Von der Finanzierung einer Autoflotte bis zur Wohnraumfinanzierung für Auszubildende.

Die Digitalisierung spielt demnach eine wichtige Rolle bei der regionalen Vernetzung und dem Aufbau einer Gesundheitsinfrastruktur vor Ort. Ein Thema der Pflegepioniere ist in diesem Zusammenhang auch der Aufbau von Telepflegestrukturen. Wie kann Pflege telematisch erbracht werden und wie trägt die Telepflege zum Erhalt pflegerischer Versorgungsstrukturen bei?

Melanie Philip: Telepflege bedeutet, eine pflegerische Versorgung auf Distanz zu ermöglichen. Dabei geht es vor allem um die Anleitung, Beobachtung und Übertragung pflegerischer Tätigkeiten. Genauer gesagt: Wir möchten Expertise vor Ort haben, obwohl sie nicht vor Ort ist. Gerade im ländlichen Raum fehlen Pflegefachkräfte, die eine Ausbildung in speziellen Bereichen z. B. der Palliativpflege, Intensivpflege oder Gerontopsychiatrie haben. Telepflege kann u. a. im Rahmen von Online-Sprechstunden oder Messengerlösungen stattfinden. Sie bietet so u. a. pflegenden Angehörigen die Möglichkeit, sich professionell und niederschwellig von einer Pflegefachkraft beraten zu lassen. Auch auf der professionellen Ebene kann die Telepflege in diesem Zusammenhang genutzt werden, beispielsweise von Pflegehelfer*innen, neuen Mitarbeitenden, zugewanderten Fachkräften und Azubis. Sie können während der Arbeit erfahrene Mitarbeitende über einen kurzen Weg ansprechen und sich absichern. Zu wissen, dass man eine Fachkraft kontaktieren kann, stärkt das eigene Sicherheitsempfinden enorm. Darüber hinaus trägt die Telepflege auch zur Zeitersparnis bei.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Philip!

 

[1] Zentrum für Qualität in der Pflege (2016) ZQP-Themenreport: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.

[2] Beobachtungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen in Europa (2018) Zwischen Arbeit und familiärer Pflegeverantwortung. So fördern europäischen Staaten die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf (Dokumentation).

Redaktion: Katharina Ommerborn
© alonaphoto/ Adobe Stock

Patrick Weiss

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