„Wir brauchen mehr Sorgfalt und Differenzierung in der Kommunikation von und über Pflege“ – Dr. Stefan Arend im Interview
Die Kommunikation über Pflege kann eine echte Herausforderung sein: Geht es um die Profession, die Branche, die Leistung? In welchem Setting findet Pflege statt und an wen ist sie gerichtet? Gemeinsam mit Dr. Stefan Arend, Gründer des „Instituts für Sozialmanagement und Neue Wohnformen“, schauen wir darauf, was zu beachten ist, wenn wir über Pflege sprechen. Und wir betrachten, wie die Pflege über sich selbst kommuniziert.
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Herr Dr. Arend, wir sprechen immer von „der Pflege“, aber was verstehen wir überhaupt unter diesem Begriff, was umfasst er?
Dr. Stefan Arend: Damit kommen wir direkt auf eines der großen Probleme in der Kommunikation von und über Pflege zu sprechen. Das Wort „Pflege“ hat viele Bedeutungen: Es umfasst unter anderem die Tätigkeit Pflege, die Leistung der Zuwendung, die gegenüber einem anderen Menschen erbracht wird, und bezieht sich auch auf die so genannte Pflegebranche. Es ist daher beim Konsum von Nachrichten und Informationen nicht immer einfach zu erkennen, um welche Pflege es geht, wenn der Begriff auftaucht. Und es gibt noch weitere Differenzierungen. Nehmen wir einmal die Tätigkeit Pflege: Sie kann professionell stattfinden oder von Angehörigen oder zivilgesellschaftlich Engagierten durchgeführt werden. Ihre Bedeutung erstreckt sich vom Leisten einer einfachen Hilfestellung für einen anderen Menschen bis hin zu einer hochprofessionellen Tätigkeit, die man studieren kann und die wissenschaftlich fundiert ist. Und dann stellt sich auch noch die Frage, an wen sich die Tätigkeit richtet, wer die Sorge empfängt. Geht es um eine kurzfristige Betreuung oder ist jemand dauerhaft auf Pflege und Unterstützung angewiesen? Sprechen wir von der Intensivpflege, der Kinderkrankenpflege? Und in welchem Setting findet die Pflege statt? Im Krankenhaus, im Altenheim oder zu Hause?
Darüber hinaus wird der Begriff „Pflege“ in Deutschland auch häufig mit der Pflegeversicherung verbunden beziehungsweise verwechselt. Dabei geht es bei der Pflegeversicherung vor allem um die Finanzierung und Organisation der deutschen Pflegestruktur.
Die umfassende Bedeutungsvielfalt des Wortes „Pflege“ erschwert es uns also, über Pflege zu kommunizieren. Gleichzeitig differenzieren die Leserinnen und Leser oftmals nicht und schauen nicht genau hin, welche Themen und Herausforderungen angesprochen werden. Wenn man aber über Pflege kommunizieren möchte, dann sollten – um in einem sprachwissenschaftlichen Modell zu bleiben – Sender und Empfänger von Nachrichten sehr aufmerksam und sorgfältig sein.
Die Vielfältigkeit von Pflege erschwert es uns also über Pflege zu sprechen. Beeinflusst das auch die Art und Weise, wie Akteur*innen der Pflege über sich selbst kommuniziert?
Dr. Stefan Arend: Ja, auch das ist ein Problem, denn wie gesagt, „die Pflege“ gibt es so nicht. Die Bedeutungsvielfalt ist so groß, dass wir immer genau erklären müssen, welche Pflege wir meinen. Ebenso müssen es auch diejenigen machen, die sich einem Bereich, einem Sektor der Pflege zuordnen. Denn je ungenauer ich kommuniziere und je unsauberer ich formuliere, desto größer ist die Gefahr von Missverständnissen. Wenn man sprachlich „alles in einen Topf wirft“, kann das „der Pflege“ letztendlich auch schaden.
In den Medien und der Politik hört man immer wieder den Satz: „Wir müssen der Pflege eine Stimme geben.“ Aber macht es überhaupt Sinn, dass die vielfältige Pflege mit einer Stimme spricht?
Dr. Stefan Arend: Ich erkenne dahinter den Wunsch und die Sehnsucht einer stärkeren Wahrnehmung der Pflege in der Gesellschaft und Öffentlichkeit. Aber die Außendarstellung von Pflege auf „eine Stimme“ bzw. eine Person zu konzentrieren, ist sicher nicht der richtige Weg und auch höchst undemokratisch. Ich wüsste auch nicht, dass andere Branchen mit einer Stimme sprechen oder so wahrgenommen werden. Bei der Medizin ist es beispielsweise auch nicht so. Dort haben wir auch verschiedene Akteure – die GKV, die Kassenärzte, den Ärzteverband, die Marburger, die Hausärzte und so weiter. Es tauchen natürlich immer mal wieder ausgesprochen charismatische Persönlichkeiten auf, die dann im Umkehrschluss als Stimme für eine Branche gelten können. Aber auch sie sind nicht „die eine Stimme“. Ich nehme zudem derzeit keine Persönlichkeit in Deutschland wahr, die in der Lage und willens wäre, für die gesamte Pflege in ihrer Bedeutungsvielfalt zu sprechen. Ein vielschichtiger, hörbarer Chor, der die verschiedenen Bedürfnisse der Pflege zum Ausdruck bringt, ist mir viel lieber.
Finden Sie denn, dass „die Pflege“ mit ihren unterschiedlichen Interessen in Gesellschaft und Politik bisher nicht präsent genug ist?
Dr. Stefan Arend: Ich nehme wahr, dass Pflege in ihren vielen Schattierungen sehr wohl gehört wird. Ich denke vielmehr, dass Pflege selbst an sich den Anspruch stellt, noch präsenter zu sein und noch deutlicher in bestimmten Diskussionen aufzutauchen. Aber wenn ich mir die Regierungsprogramme anschaue und Reden führender Politikerinnen und Politiker höre, dann erkenne ich darin eine große gesellschaftliche Relevanz der Pflege, die auch entsprechend gewürdigt wird. Das war allerdings nicht immer so. Ich bin seit mehr als 30 Jahren in der Pflegebranche tätig und weiß daher nur zu gut, dass früher über Pflege oder Alter, z. B. in den Tageszeitungen, kaum berichtet wurde.
Hat das auch etwas mit der Corona-Pandemie zu tun? Hat sich die Sichtbarkeit von Pflege und die Art, wie wir über Pflege kommunizieren, in dieser Zeit besonders stark verändert?
Dr. Stefan Arend: Die Corona-Pandemie war insbesondere für die Alten- und Langzeitpflege eine extreme Situation, auch was die Kommunikation betrifft. Die Gesellschaft, die zutiefst irritiert und verunsichert war, hat mit einem echten Kommunikationshype auf die Krise reagiert. Plötzlich wurden in den professionell Pflegenden Helden entdeckt. Es gab zum Beispiel dieses absolut ausdrucksstarke Bild einer italienischen Krankenschwester aus Bergamo, das in vielen großen Zeitungen veröffentlicht wurde und diese Pflegerin als Heldin stilisiert hat. Das war für das Narrativ, für die Hoffnung der Gesellschaft, absolut wichtig. Pflegerinnen und Pfleger haben als Helden in der Krise zurecht gut funktioniert. Doch innerhalb kürzester Zeit sind diese Helden wieder aus den Schlagzeilen gepurzelt. Der ganze Hype hat der Pflege, was die Kommunikation betrifft, mittel- und langfristig überhaupt nichts gebracht. Die Pflege konnte in der Pandemie zwar ihre Professionalität gut zum Ausdruck bringen und deutlich machen, dass sie systemrelevant ist. Aber die Kommunikation ist in dieser Zeit, wie ich finde, absolut misslungen.
Ich beobachte, dass die Medien auch außerhalb von Corona sehr gerne zwei Extreme bedienen, wenn sie über die Alten- und Langzeitpflege berichten: Entweder sind die Pflegenden eben diese Helden und werden in den Himmel gelobt oder aber die Altenpflege wird als ganz schrecklich und voller Missstände dargestellt. Mir fehlen hier ganz klar die Grautöne.
Wir müssen also nicht nur klar differenzieren, über welche Pflege wir sprechen, sondern auch die Probleme, Herausforderungen und ihre Ursachen klar darstellen. Kurz gesagt: Wir brauchen mehr Sorgfalt, mehr Differenzierung und mehr Wachsamkeit bei und in der Kommunikation über Pflege.
Gibt es etwas, das „die Pflege“ in der Kommunikation anders machen kann, um noch mehr und vor allem dauerhaft in Politik und Gesellschaft wahrgenommen zu werden?
Dr. Stefan Arend: In der Kommunikation über Pflege, insbesondere über die Alten- und Langzeitpflege, fällt mir auf, dass sie vor allem auf Defizite und Problemlagen hinweist. Natürlich müssen wir auf Schieflagen aufmerksam machen. Aber meiner Meinung nach werden dabei die positiven Seiten der Pflege zu stark vernachlässigt: Wie erfüllend der Beruf ist, welche wertvollen Erfahrungen damit verbunden sind, wie stolz und ausgefüllt man als Pflegekraft sein kann und welch relevante Aufgabe man wahrnimmt. Das Pendel schlägt leider häufig zu stark in Richtung Wehklagen, und das hilft uns in der Kommunikation über Pflege nicht unbedingt weiter. Um es brutal zu sagen: Es langweilt! Etwas schlimmeres kann es bei Kommunikation nicht geben.
Ein weiteres Problem ist die Fehlerkultur und die Art und Weise, wie mit Dingen umgegangen wird, die nicht so gut laufen. Eine gute Fehlerkultur würde dabei helfen, Wege zu erkennen, durch die Pflege selbst, aus eigener Kraft Verbesserungen für die Branche herbeiführen kann. Die Pflege, ähnlich wie die Medizin, zeigt häufig lieber auf andere: Wenn etwas nicht optimal läuft, dann liegt es an den Rahmenbedingungen, am Geld, an der Politik oder den Kassen. Die Selbstreflexion und Selbstkritik sind mir an dieser Stelle zu wenig ausgeprägt. Eine stärkere Auseinandersetzung mit den eigenen „Fehlern“ würde der Kommunikation von Pflege auch nach außen hin sicherlich guttun.
Wird die generalistische Ausbildung den Blick auf „die Pflege“ verändern, insbesondere bei den neuen Auszubildenden? Was könnte das für die zukünftige Kommunikation bedeuten?
Dr. Stefan Arend: Die Generalistik revolutioniert, nachdem man viele Jahre durchaus zurecht heftig um eine Reform der klassischen Pflegeausbildung gerungen hat, die professionelle Pflege. Alle Auszubildenden lernen alle Bereiche von professioneller Pflege kennen – das ist hochanspruchsvoll. Der Blick auf die Profession Pflege wird somit durchaus verändert, denn die so ausgebildeten Pflegekräfte werden ein viel umfassenderes Verständnis von Pflege haben. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Vorbehaltsaufgaben, die nur von professionell Pflegenden ausgeführt werden dürfen. Wenn ich als Pflegekraft weiß, dass mir bestimmte Aufgaben vorbehalten sind, dann stärkt das natürlich mein Selbstbewusstsein. Ich sehe deshalb die Chance, dass Pflegende künftig selbstbewusster und mit gestärktem Rücken auftreten werden.
Ein sehr wichtiger Punkt in der neuen Ausbildung ist meiner Meinung nach aber auch die Stärkung der Akademisierung. Sie bietet die Möglichkeit einer tiefergehenden Professionalisierung, Reflexion und Weiterentwicklung des Bereichs. Pflege wird so auch in der Gesellschaft stärker als wissenschaftliche Disziplin wahrgenommen werden. Das wird unseren Blick auf Pflege und das Selbstverständnis der Pflegenden sicherlich beeinflussen.
Wie nehmen Sie die derzeitige Kommunikation über Pflege in der Gesellschaft und den Medien in Deutschland wahr?
Dr. Stefan Arend: Auch hier müssen wir mit dem Begriff „die Pflege“ vorsichtig sein. Die Altenpflege wird in der Gesellschaft ganz anders wahrgenommen als die Pflege im Krankenhaus. Wir sollten das an dieser Stelle differenziert betrachten und schauen deshalb einmal auf die Altenpflege. Die Berichterstattung über die Altenpflege bezieht sich sehr stark auf professionelle Pflege, auf Pflegeheime und ambulante Dienste. Es bleibt dabei oft außen vor, dass wir alle in irgendeiner Form aufgefordert sind, Sorge für andere Menschen zu übernehmen. Es wird eher distanziert über Altenpflege kommuniziert, viel zu wenig über die pflegenden Angehörigen und darüber, was wir, die Gesellschaft selbst zu einer guten Sorgestruktur beitragen können, ja müssen. Dabei heißt es im Text der Pflegeversicherung, dass Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, Punkt! Das vergessen wir leider gerne.
Warum schauen wir in Deutschland denn eher distanziert auf die Altenpflege?
Dr. Stefan Arend: Ich glaube, dass die Ökonomisierung des Sozialen in Deutschland in den 1990er-Jahren unseren Blick auf Pflege sehr stark geprägt und verändert hat. Die Schaffung der Pflegeversicherung und die Privatisierung der Sozialbranche verursachen auch ein Wegschieben der Verantwortung für Sorgearbeit von der Gesellschaft und den Menschen hin zu Institutionen. Uns wurde vermittelt, dass wir als Gesellschaft Sorgearbeit nicht leisten müssen, weil es Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste gibt, die diese Aufgabe übernehmen und dafür finanziell ausgestattet werden. Das beeinflusst bis heute unsere Kommunikation und das Bild, das wir von Pflege haben und immer noch zeichnen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Arend!
Dr. Stefan Arend ist Sozialmanager, Lehrbeauftragter, Projektentwickler, Berater und Publizist in München. 2020 gründete er das „Institut für Sozialmanagement und Neue Wohnformen“. Er publiziert regelmäßig zu sozialpolitischen und kulturhistorischen Fragestellungen und war rund 30 Jahre in Führungsverantwortung in namhaften Sozialunternehmen tätig.
Redaktion: Katharina Ommerborn© Farknot Architect/Adobe Stock
Patrick Weiss
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