Kinder- und Jugendhilfe: „Wer keine bewusste Kultur entwickelt, kann keine gute pädagogische Arbeit leisten“
Im Rahmen unserer Reihe zur Unternehmenskultur haben wir mit Petra Hiller, Geschäftsführerin der ev. Stiftung Overdyck, über das Thema Kulturarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe gesprochen. Petra Hiller hat federführend mehrere Projekte zur Kultur und Organisationsstruktur in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt. Ihr Credo: Kultur muss von der Leitung in die gesamte Institution getragen werden.
Frau Hiller, was fassen Sie unter dem Begriff von Kulturarbeit in sozialen Organisationen, wie definieren Sie Kultur?
Kulturarbeit ist für mich zu aller erst die Arbeit mit Menschen. Da man im sozialen Bereich, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe, nicht nur mit seinem Personal, sondern mit den zu betreuenden Kindern und Jugendlichen und deren Eltern arbeitet, sehe ich Kultur als Schnittstellenthema zwischen Leitung, Mitarbeitenden und Klient*innen. Kultur sollte von der Leitung den Mitarbeitenden vorgelebt werden, die diese wiederum an die Kinder und Jugendlichen und deren Eltern weitertragen.
Also geht es um ein gutes Miteinander?
Das wäre für mich eine Reduzierung des Themas. Kultur hat mit grundsätzlichen pädagogischen Haltungen zu tun. Sie kann nur geschaffen werden, wenn diese Haltung auf allen Ebenen des Unternehmens gelebt wird: Wie engagiere ich mich (als Leitung, als Fachkraft…) und was erachte ich für wichtig in der pädagogischen Arbeit?
Also wäre das Thema Partizipation für Sie ein Kulturthema?
Partizipation ist sozusagen das Kulturthema schlechthin. Und es kann als gutes Beispiel für die unterschiedlichen Ebenen der Kultur dienen: Wie soll ein Mitarbeiter seiner Klientin Partizipation ermöglichen und vorleben, wenn er selbst an seiner Organisation nicht partizipieren kann, weil die Leitung es nicht ermöglicht? Damit ist Partizipation in Unternehmen der Kinder- und Jugendhilfe (und sicher auch in anderen sozialen Organisationen) eine pädagogische Grundhaltung und damit ein zentrales Kulturelement.
Welche weiteren Kulturelemente gibt es in der Kinder- und Jugendhilfe?
Wichtig ist in meinen Augen auch eine angemessene Fehlerkultur. Fehler passieren, sie totzuschweigen macht es aber nicht besser, sondern sorgt nur für eine Wiederholung von Fehlern. Wenn ich möchte, dass Kritik angenommen wird, dann muss ich auch darauf achten, dass sie so formuliert wird, dass der oder die Mitarbeitende dabei das Gesicht wahren kann. Und auch hier gilt wieder: Ich kann das Verhalten anderer nur an meinem eigenen messen. So banal es klingt, aber eine Mitarbeiterin, die zu spät zum Dienst kommt, kann kaum glaubhaft einem betreuten Jugendlichen vermitteln, dass er abends bitte pünktlich in der Einrichtung zu sein hat. Auf allen Ebenen zeigt sich: Wenn mit meinen Fehlern angemessen umgegangen wird, kann ich auch mit den Fehlern anderer angemessen umgehen.
Inwiefern unterscheidet sich die Kultur in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe von denen anderer sozialer Branchen?
Die Themen der Kultur sind sicherlich in allen sozialen Branchen ähnlich – die Beteiligung der Klientel und die Ermöglichung von sozialer Teilhabe spielen ja auch in der Eingliederungshilfe und der Pflege eine wichtige Rolle. Aber die Gewichtung kann unter Umständen eine andere sein. Die Lösungen zur Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe sehen anders aus als in der Pflege zum Beispiel, einfach weil die Lebenssituation der Klient*innen eine andere ist. Oder auch das Thema Flexibilität – auch ein wichtiges Kulturthema – ist sehr abhängig von den Bedürfnissen der Klientel. Wir betreuen Kinder und Jugendliche, die zum Gymnasium gehen genauso wie solche, die Drogenprobleme haben und straffällig geworden sind. Wir haben jungen Erwachsene und solche im Kindergartenalter. Deshalb müssen unsere Angebotsstrukturen entsprechend flexibel sein.
Gibt es Möglichkeiten, die Kultur in einer Einrichtung aktiv zu gestalten?
Ja, die gibt es auf jeden Fall und das geht am besten über die selbstreflexive Auseinandersetzung aller Beteiligten. Diese muss aber natürlich angeregt werden, Selbstreflektion ist nichts, was man von seinen Mitarbeitenden automatisch erwarten kann. Dafür sind Reflektionsgespräche sinnvoll, aber auch Fortbildungen und interne Schulungen. Gerade neue, junge Mitarbeitende haben unter Umständen ein ganz anderes Verständnis von Partizipation. Dann muss ich als Leitungskraft den Mitarbeitenden Gesprächsangebote machen und mich fachlich positionieren. Außerdem müssen die Teams in ihren Prozessen fachlich gut begleitet werden, um in ihrer Eigenständigkeit gestärkt zu werden. Das ist definitiv Leitungsaufgabe. Gleichwohl ist Kultur ein Thema für alle Ebenen der Institution.
Welchen Tipp würden Sie geben, wenn eine Kollegin oder ein Kollege die Kultur in der Einrichtung umgestalten möchte, weil beispielsweise ein schlechtes Teamklima herrscht?
Pauschal kann man das nicht sagen, denn die Lösung sollte grundsätzlich am Problem orientiert sein. Zuerst sollte man sich also die Frage stellen, welche Ursache die Teamkonflikte haben. Liegt sie in fachlichen Unstimmigkeiten oder in der Überforderung durch herausforderndes Verhalten der Klientel? Oder sind es tatsächlich persönliche Dissonanzen? Je nachdem können dann Supervisionen, Crowd Coaching oder eben fachliche Fortbildungen ein erster Schritt hin zu einer Verbesserung sein. Gerade bei einem Kulturgestaltungsprozess ist auch Partizipation wieder das oberste Gebot, also Mitarbeitende und Klient*innen einzubeziehen.
In welchen Bereichen sehen Sie kulturelle Schwierigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe?
Ein sehr häufiges Problemthema ist der Zusammenhang von pädagogischer Haltung und eigener Biografie bei den Fachkräften. Auch ein Studium der sozialen Arbeit ändert nichts an der eigenen Prägung eines Pädagogen bzw. einer Pädagogin. Wenn nun junge Sozialarbeiter*innen frisch von der Uni kommen und auf eine Kultur in ihrer neuen Einrichtung stoßen, reagieren sie unterschiedlich, je nachdem ob sie beispielsweise einen anti-autoritären oder einen sehr strengen biographischen Hintergrund haben. Die einrichtungsspezifische Kultur und die eigene Biografie übereinander zu bringen kann schwierig für junge Mitarbeitende sein. Und damit sind wir wieder bei der Leitungsaufgabe, Mitarbeitende mitzunehmen.
Warum ist das Kulturthema in der heutigen Zeit so besonders wichtig?
Weil eine Einrichtung, die keine bewusste Kultur entwickelt, keine gute pädagogische Arbeit leisten kann. Wir leben davon, gute Arbeit für unsere betreuten Kinder und Jugendlichen zu leisten und dafür braucht es eine unternehmensspezifische Leitkultur, die durch alle Ebenen der Institution zu spüren ist. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels und der komplexer werdenden Bedarfe unserer Klientel sowie der bevorstehenden SGB VIII-Reform, die noch mehr Personenzentrierung zur Folge haben wird, kann nur eine Organisation, die diese Leitsätze lebt, zukunftsfähig aufgestellt sein. Kultur ist ein allumfassendes Thema, von dem alle profitieren, an dem aber auch alle mitarbeiten müssen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Hiller!
Text: Marie Kramp© Brooke Cagle on Unsplash
Birgitta Neumann
Sie haben Fragen rund um die Kulturgestaltung oder die Organisationsentwicklung in Ihrer Einrichtung der freien Kinder- und Jugendhilfe? Sprechen Sie uns unverbindlich an!