Im Gespräch: Branchen-Experte Thomas Sießegger über aktuelle Entwicklungen in der ambulanten Pflege

Thomas Siessegger im Interview
Donnerstag, 01 Juni 2023 12:15

Gestiegene Kosten durch Tariftreuegesetz und Energiekrise, fehlende Fachkräfte und hohe Krankenstände, weniger umsatzstarke Kundinnen und Kunden, Pflegegeld als ,Haushaltskassenfüller‘ in der Wirtschaftskrise – das sind nur einige der Herausforderungen, mit denen Pflegedienste umgehen müssen. Thomas Sießegger ist seit über 30 Jahren in der Branche beratend aktiv und benennt im conZepte-Interview Probleme, Fragen, aber auch Chancen und Strategien für ambulante Pflegedienste.

Herr Sießegger, zum Einstieg interessiert uns Ihr erfahrener Blick auf den ambulanten Pflegemarkt. Welche relevanten Entwicklungen beobachten Sie zurzeit?

Thomas Sießegger

© Florentine Sießegger

Thomas Sießegger: Zunächst einmal muss ich sagen, mit all meinem Erfahrungshintergrund: Es gab noch nie eine so herausfordernde Zeit wie momentan. Lassen Sie mich nur einige Punkte näher beleuchten: Seit Frühjahr und Frühsommer 2022 war die Krankheitsquote so hoch wie noch nie in der Geschichte der ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste. Der Krankenstand der Mitarbeitenden bleibt i.d.R. über 4 Prozent höher als „früher“ (Stand April 2023), verdoppelt sich in den meisten Fällen – geschätzt auf 8 bis 10 Prozent. Das macht die Einsatzplanung besonders schwierig, insbesondere für kleine Pflegedienste.

Schaut man sich die Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen nach Art der Versorgung an, zeigt sich, dass die Zahl der durch Pflegedienste versorgten Personen nicht sehr stark steigt. Das liegt aber einzig daran, dass es keine Kapazität und keine Fachkräfte gibt. Denn gleichzeitig geht das komplette Wachstum der Pflegebedürftigen in den häuslichen Bereich.

Seit Herbst 2022 versterben zudem mehr umsatzstarke Kundinnen und Kunden als in den Vorjahren. Pflegedienste stehen vor der Herausforderung, ihren Kundenstamm wieder sinnvoll zu ergänzen. Hier kann man die Perspektive wechseln und es so betrachten: Ambulante Pflegeanbieter befinden sich in der komfortablen Situation, ihren Kundenkreis aktiv auszuwählen bzw. zu gestalten. Es gilt, sich auf diejenigen Personen zu konzentrieren, die die Versorgung wirklich nötig haben. Das ist betriebswirtschaftlich der richtige Ansatz, aber auch aus einer Werteperspektive sinnvoll.

…gehen wir kurz auf den Fachkräftemangel ein, was beobachten Sie?

Es fehlen neben Pflegefachpersonen auch gute Betreuungskräfte, Assistenzen, Hauswirtschaftskräfte mit entsprechender Ausbildung. Es wird immer deutlicher im Wettbewerb um die Mitarbeitenden: Arbeitsplätze in der ambulanten Pflege müssen attraktiver gestaltet werden. Sie stehen im Wettbewerb zu Krankenhäusern, WGs, stationären Pflegeeinrichtungen – und zu anderen Berufsfeldern. Schaut man sich wiederum auf Basis der Bevölkerungsentwicklung die Perspektive an, wie es im Jahr 2060 aussehen wird, ist es im Verhältnis jetzt sogar noch leicht, Fachkräfte zu finden.

Pflegestatistik 2021 Pflegebeduerftige zuhause

Grafik: 2015–2023 T. Sießegger, aufbereitet nach den Daten des Statistischen Bundesamtes [Stand: 2021]

Hier möchte ich auch noch auf eine Entwicklung hinweisen: Die PDL muss „zurzeit“ in der Pflege mit anpacken, sie fühlt sich dazu genötigt. Doch dieses „Zurzeit“ geht schon seit einem Jahr so. Es gibt oft keine aktiven Lösungsansätze. Im Grunde müsste eine PDL sich festlegen, z. B.: Wenn es gelingt, die aktuell ausgeschriebene Pflegefachkraft zu finden, zieht sie sich sofort aus der Pflege zurück. Denn andernfalls kommt die Führungsrolle zu kurz. Auch bzw. gerade hier hat die PDL eine Verantwortung. Sie muss planen und kontrollieren – und sollte lieber einmal einem Kunden oder eine Kundin absagen als selbst einzuspringen.

Was wird sich auf dem Markt bewegen? Wie schätzen Sie z. B. die Rolle privater Investoren ein?

Etwa 3.000 bis 5.000 ambulante Pflege- und Betreuungsdienste wechseln in den nächsten fünf bis zehn Jahren den Besitzer. Hier wird es Übernahmen geben, viele Dienste werden aber auch aufgeben. Derzeit gibt es auf dem Markt doppelt so viele private Dienste, rund 10.000, wie Dienste in der Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden, rund 5.000. Private Investoren spielen aus meiner Sicht nur eine marginale Rolle, viele der großen Gruppen sind inzwischen gescheitert. Seit Anfang des Jahres 2022 halten sich nationale und internationale „Investoren“ fast komplett zurück und kaufen (fast) keine Pflegedienste mehr.

Es gibt zwar noch Interesse seitens kleiner Dienste, ihre Unternehmen zu verkaufen. Es gibt auch noch Interesse von Investoren. Aber die Parteien kommen nicht mehr zusammen. Die Risiken sind zu groß, die Renditen zu klein – ambulante Pflege als Investitionsobjekt, das funktioniert nicht. Zwei Trends lassen sich derzeit beobachten: Investoren treten nicht mehr als solche auf. Der Name eines Dienstes bleibt, er wird erst später überführt in eine Gruppe mit einheitlichem Namen – so soll eine Kundenabwanderung verhindert werden. Auch das wird nicht funktionieren, ebenso wenig wie der Trend zu Minderheitsbeteiligungen. Aus meiner Sicht steht und fällt der Erfolg eines ambulanten Pflegedienstes auch mit der Inhaberin oder dem Inhaber, damit, dass eine gewisse Idee dahintersteckt und dass es ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Dienst und den Kundinnen und Kunden gibt.

In den zurückliegenden Monaten sind die Leistungspreise sehr vieler Pflegedienste durch die Vorgabe der Tariforientierung erheblich gestiegen. Welche Beobachtungen haben Sie dazu?

Die neue Tarifbindung und die damit einhergehenden Kostensteigerungen erfordern höhere Transparenz. Personalkosten müssen nun viel detaillierter als früher angegeben werden. Durch die stark steigenden Löhne und Gehälter sind neue Vergütungsverhandlungen mit Kassen notwendig. Die absehbar stark steigenden Personalkosten führen zur Schmälerung von gewohnten Renditen – bis in Defizitäre – insbesondere bei privaten Pflege- und Betreuungsdiensten.

Die Inflation steigt derweil weiter und ist nicht eingepreist in den neuen Vergütungen, sie wurde in den Vergütungsverhandlungen bisher nicht angemessen berücksichtigt. Parallel lässt sich beobachten, dass – um es einmal etwas provokativ zu sagen – die „Oma als Einnahmequelle“ oder zumindest als „Inflationsausgleich“ in manch einem Haushalt entdeckt wird.

Unter anderem durch die Folgen der Sanktionen gegen Russland und die Energiekrise steht die große Wirtschaftskrise erst noch bevor: den Bürgerinnen und Bürgern, der Wirtschaft und den Pflege- und Betreuungsdiensten. In der Kombination mit der neuen Tarifbindung werden Pflegedienste zu Hunderten aufgeben.

Welche Rolle spielen in diesem Kontext die (bislang) unveränderten Sachleistungsbudgets?

Die Sachleistungen werden tatsächlich derzeit nur zu etwa 50 Prozent im Durchschnitt ausgeschöpft. Wir haben genau genommen in der ambulanten Pflege kein großes Finanzierungsproblem. Die 5 Prozent Erhöhung bei den Sach- und Geldleistungen im Zuge des PUEG spielen hier also auch keine wesentliche Rolle. Es kommt viel stärker auf das „Beraten“ und „Verkaufen“ seitens der Dienste an.

Wie agieren die Pflegedienste, um das Leistungsvolumen zu erhalten?

Viele Pflegedienste, geschätzt mehr als 50 Prozent, haben seit Herbst 2022 Annahmestopps für neue Kundinnen und Kunden. Das Jahr 2022 war geprägt von steigenden Kundenzahlen, sinkender Kennzahl „Umsatz pro Kunde“, sinkender Ausschöpfung der Sachleistungen in den Pflegegraden 2 und 3. So ergab sich trotz steigender Kundenzahlen eine wirtschaftlich schlechtere Situation. Um die Frage direkt zu beantworten: Die Dienste reagieren oft unbewusst, ohne Reflexion.

Und was empfehlen Sie den Pflegediensten?

Es besteht dringender Bedarf für 1. Reflexion, 2. neue Orientierung und 3. neue Ziele. Um reflektiert zu handeln, ist es entscheidend, mit Kennzahlen, und zwar mit den richtigen, laufend zu arbeiten. Temporäre Annahmestopps sind in dieser Situation durchaus eine sinnvolle Maßnahme. Generell müssen Pflegedienste bewusster am Markt agieren und sagen: Wir wollen diese Leistung erbringen, also setzen wir unser Personal dafür ein und lehnen andere Anfragen ab. Im Vorfeld ist dafür zu klären: Was möchten wir im Sinne unseres Leitbilds anbieten?

Ich empfehle, i.d.R. nur noch Kundinnen und Kunden mit der Aussicht auf eine umfangreiche Versorgung aufzunehmen. Dienste sollten auch die Leistungen mit dem Entlastungsbetrag nach § 45b limitieren, auf max. 10-11 Prozent der Gesamteinnahmen. Es kann aber auch „wichtige“ Kundinnen bzw. Kunden geben, die nicht umsatzstark, und trotzdem aus anderen Gründen aufzunehmen sind. Hier braucht es ein gewisses Feingefühl. Entscheidend ist, nicht unreflektiert aufzunehmen.

Ein weiterer Rat besteht darin, Beratungsgespräche nach § 37 Abs. 3 SGB XI für alle eigenen Sachleistungskunden einzuführen, um der sinkenden Ausschöpfung der Sachleistungen entgegenzuwirken. Diese kostenlose Beratung lässt sich gut als Mehrwert für die Kundinnen und Kunden aufzeigen, und wird zudem finanziert. Die Gespräche können genutzt werden, um bei den vereinbarten Leistungen der Kundschaft, bei Bedarf, nachzujustieren – das kann oftmals sinnvoller sein als neue Kundinnen und Kunden aufzunehmen.

Es lohnt sich auch, ‚lukrative‘ Leistungsarten zu identifizieren, zu forcieren oder auszubauen. Das gilt für die stundenweise Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI, aber auch für Privatzahlerleistungen – beispielsweise: Verordnungen besorgen, nach dem Rechten schauen. Sinnvoll sind ebenfalls – ab einer gewissen Größe des Dienstes – professionelle Beratungsteams innerhalb des Dienstes. Darunter verstehe ich ein Team von drei bis vier Personen, die sich u. a. mit Sozialrecht auskennen, kaufmännisch denken und zuhören können. Erstgespräche mit einheitlicher Ausstattung, die Leistungen gemeinsam durchgehen, daraus einen Kostenvoranschlag machen – all das muss geplant und trainiert werden.

Noch einmal zurück zu den Kennzahlen: Das von Ihnen entwickelte „Sießegger-Kennzahlen-System“ bietet vielen Pflegediensten die maßgebliche Steuerungsbasis. Können Sie einmal – in aller Kürze – erklären, was das System ausmacht?

Die Zahlen aus den betriebswirtschaftlichen Auswertungen reichen nicht aus, um der Pflegedienstleitung einen verlässlichen Überblick zu geben, welche Ursachen für bestimmte Zahlenentwicklungen vorliegen. So ist z. B. der Monat Februar mit seinen Betriebsergebnissen immer wesentlich schlechter als die Monate Januar und März. Das liegt allein an der Anzahl der Tage eines Monats, und der damit verbundenen Möglichkeiten für die Abrechnung.

Oft sind die Zahlen auch nicht zeitnah verfügbar. Die Zahlen für das Kennzahlen-System kommen derweil überwiegend aus den Verwaltungs- und Abrechnungsprogrammen. Die Kosten bleiben während der Monate wesentlich gleich. Ein weiterer Kritikpunkt sind die übers Jahr verteilten Kosten, die nicht immer eindeutig abzugrenzen sind, z. B. Jahresabgrenzungen für Über-/Mehrstunden, Urlaub und andere. Mithilfe eines Kennzahlensystems können insbesondere bei den Zahlen zur „Zeit“ die Ursachen gefunden werden, d. h.: „Wie wird mit Zeit umgegangen?“ Die Zeit ist die Grundlage für die Entstehung der Kosten. Bei der Analyse der Erträge geht es darum, zu analysieren, „welche Leistungsarten in welchem Umfang erbracht werden“.

Einige Dienste scheuen auch die Komplexität Ihres Systems. Wenn Sie die wichtigsten Kennzahlen identifizieren müssten, welche wären das?   

Ich habe die Kennzahlen für die PDL und für die Geschäftsführung inzwischen in einer Pyramide angeordnet, um die Relevanz abgestuft zu zeigen [Hinweis der Redaktion: siehe untenstehende Grafiken]. Schaut man die Pyramide an, so stellt die Kostendeckung an der Spitze vor allem eine Art Fieberthermometer dar. Damit ist aber noch kein Grund gefunden. Die darunterliegenden Zahlen bringen dann die Erklärungen. In meiner Zeitschrift PDL Management stelle ich jeden Monat eine Kennzahl des Monats vor. Diese Rubrik empfehle ich allen Interessierten, die hier tiefer eintauchen wollen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Sießegger!

Kennzahlen Pyramide Thomas Sießegger

Grafiken entnommen aus: PDL Managagement – April 2023; für mehr Infos  vgl. S. 26-28

Gespräch: Linda Englisch
Titelbild: © thodonal/Adobe Stock

Peter Burkhardt

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