Die Kinder- und Jugendhilfe im Wandel – Claudia Langholz und Silke Mehre im Interview
Partizipation, Inklusion und Organisation sind Bereiche, in denen sich die Kinder- und Jugendhilfe zukünftig verändern und weiterentwickeln wird. Bei diesen Veränderungen beraten und unterstützen Claudia Langholz, Diplom Sozialpädagogin und Managementberaterin im Marktfeld Kinder- und Jugendhilfe, und Silke Mehre, Sozialarbeiterin und Organisations- und Managementberaterin, im Rahmen ihrer Beratungstätigkeiten bei der contec. In diesem Interview geben sie Einblicke in die Herausforderungen der Branche und ihre Lösungsansätze.
Frau Langholz, Frau Mehre, Sie beide sind bei der contec für die Beratung in der Kinder- und Jugendhilfe zuständig – denn diese wird immer stärker nachgefragt. Was haben Sie vor Ihrem Wechsel zur contec gemacht und welche Kenntnisse bringen Sie aus Ihren vorherigen Tätigkeiten mit?
Claudia Langholz: Meine fachlichen Schwerpunkte lagen in den letzten Jahren im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe und der Kindertagesstätten. Ich war viele Jahre als Geschäftsführerin bei Leistungserbringern beschäftigt und bringe deshalb sehr viel Management- und Führungserfahrung mit. In meiner Arbeit bei contec lege ich den Fokus auf fachliche, strukturelle, aber vor allem auch strategische Fragestellungen, die sich u. a. aus rechtlichen Veränderungen z. B. durch das KJSG ergeben.
Silke Mehre: Vor meiner Beratungstätigkeit war ich jahrelang auf Seiten der Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe tätig. Ich habe außerdem in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet und mich berufsbegleitend im Sozialmanagement weitergebildet. Im Zuge der rasanten Entwicklungen interessiere ich mich in den Hilfen zur Erziehung vor allem für die Frage, wie sich Organisationen kurz- und mittelfristig gut aufstellen können bzw. müssen, um Bedarfe adäquat zu bedienen, und welche Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Zudem erachte ich es als besonders wichtig, einen inklusiven Kinderschutz zu stärken und zu diskutieren. Für mich beinhaltet das, Fachkräfte mit den benötigten Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen auszustatten und Strukturen dafür zu schaffen.
Frau Langholz, Sie begleiten die Kunden bei der strategischen Neuausrichtung. Warum ist eine Auseinandersetzung mit strategischen Fragestellungen für das Management der Kinder- und Jugendhilfe aktuell so wichtig?
Claudia Langholz: Die Branche der Kinder- und Jugendhilfe war immer schon gut darin, auf Krisen zu reagieren. Ob die Fluchtbewegungen seit 2015, die Auswirkungen der Pandemie oder auch jetzt der Fachkräftemangel – die Akteure in der Branche finden entsprechende Lösungen. Aber die nun bevorstehende neue rechtliche Weichenstellung sowie die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen lösen so einen massiven Bedarf an Organisationsentwicklungsprozessen aus, dass es den langfristigen strategischen Blick braucht, um alle Stränge zusammenzuführen. Das (inklusive) Leistungsangebot kann nicht ohne eine solide wirtschaftliche Grundlage gelingen und beides kann am besten über eine gute Unternehmensstrategie zusammengedacht werden. Ich möchte den Blick dafür sensibilisieren, dass wir Themen wie Wirtschaftlichkeit, Dienstleistungsorientierung und Fachlichkeit nicht losgelöst voneinander, sondern als ein Konglomerat von wichtigen Bausteinen bearbeiten. Organisationsanalysen und -entwicklungen sind unabdingbar und das spüren wir auch in der Nachfrage.
Claudia Langholz und Silke Mehre
Frau Mehre, Sie haben bereits die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe angesprochen. In welchen Bereichen sehen Sie denn aktuell die bedeutendsten Herausforderungen?
Silke Mehre: Die mit dem KJSG beschlossene inklusive Lösung stellt die Branche vor umfassende Strukturreformen und ist vermutlich eine der größten Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, brauchen wir gute inklusive Konzepte. Solche zu erstellen ist, wie Claudia Langholz gesagt hat, nicht nur eine fachliche, sondern auch eine wirtschaftliche Herausforderung. Wie können inklusive Angebote fachlich und methodisch beschrieben werden und was braucht man als Träger an finanziellen und personellen Ressourcen? Ganz zu schweigen von einer Refinanzierung der personellen Ressourcen für die vorgelagerte konzeptionelle Arbeit an sich, denn bisher gibt es leider keine Regelung dazu, wie der konzeptionelle Aufwand und die personellen Ressourcen für die Integration in den Betrieb finanziert werden. Aber auch: Wie kann eine Zusammenarbeit der Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe systematisch etabliert und die unterschiedlichen Perspektiven gewinnbringend miteinander vereinbart werden? All das sind Fragen, mit denen sich das Management jetzt auseinandersetzen muss. Die anstehenden Strukturreformen werden Veränderungen mit sich bringen, die sowohl bei Trägern der freien als auch öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Unsicherheiten auslösen können. Als contec können wir in diesen Prozessen beratend und unterstützend zur Seite stehen, da wir die verschiedensten Einrichtungen kennen und entsprechende Empfehlungen geben können.
Frau Langholz, welche weiteren Aspekte muss das Management der Kinder- und Jugendhilfe aktuell berücksichtigen?
Claudia Langholz: Es gibt natürlich auch jenseits des KJSG Managementhemen, mit denen sich Führungskräfte beschäftigen müssen. Fragen von Führungskultur, Managementprozessen, Betriebserlaubnis und wirtschaftlicher Sanierung stellen sich bei manchen Trägern ja auch jetzt schon. Es kann sinnvoll sein, solche Themenkomplexe anzugehen, bevor man sich mit Fragen eines inklusiven Angebots auseinandersetzt. Nichtsdestotrotz: Das KJSG bringt Zug in die Sache. Die Umsetzung neuer gesetzlicher Regelungen, die zum Teil noch nicht klar definiert sind, kann zu Unsicherheiten der Akteure im Arbeitsfeld führen. Deshalb braucht es eine klare, rahmengebende Führung seitens des Managements und eine stetige Reflexion der Führungskultur. Fachlich gesehen sind Fort- und Weiterbildungen von Fachkräften sowie die Überprüfung, Weiterentwicklung und Anpassung von Verfahrensweisen und Dokumentationsvorlagen in naher Zukunft unglaublich wichtig. Es braucht ein gutes und vor allem praxisnahes Qualitätsmanagement, um auch den Nachweisen von Wirkung und Wirksamkeit Rechnung zu tragen. Das alles scheint auf den ersten Blick sehr operativ, ist aber im strategischen Kontext gesehen ebenso Führungsaufgabe.
Auch im Bereich der Verwaltung besteht m. E. viel ungenutztes Potenzial, um effizienter, transparenter und damit kundenorientierter zu werden, z. B. durch die Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. Standardisierte digitale Prozesse können komplexe Verfahrensabläufe durchaus vereinfachen. Aktuell sind Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf digitalisierte Prozesse jedoch sehr unterschiedlich aufgestellt, so dass die Chancen der Digitalisierung je individuell eingeschätzt werden müssen. Hier können Organisationsanalysen ansetzen und individuelle Bedarfe herausstellen. An diesen Ergebnissen können wir in der Beratung dann mögliche Empfehlungen orientieren.
Nicht nur das Thema Inklusion, sondern auch Partizipation hat durch das KJSG eine neue Relevanz bekommen. Wie schätzen Sie die Umsetzung von Mitbestimmungsrechten in der Praxis ein?
Silke Mehre: Träger der öffentlichen Jugendhilfe müssen einen guten Rahmen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Hilfeplanung schaffen. Aber auch für Leistungserbringer ist die Auseinandersetzung mit Beteiligungsstrukturen unverzichtbar. Dieses Thema muss auf allen Ebenen der Organisation verankert werden und kann damit als Teil der Organisationsentwicklung gesehen werden. Es ist sowohl eine Frage der Unternehmenskultur, des Leistungsangebots und der fachlich-methodischen Herangehensweise an die Arbeit mit den Adressat*innen sowie der nötigen Strukturanpassungen, um Beteiligung leben zu können.
Claudia Langholz: Man muss sagen, dass viele Träger sich seit Jahren mit Formen der Beteiligung befassen und ihre Angebote partizipativ gestalten, aber jetzt sehe ich die Chance, Partizipation in dem größeren Kontext der Inklusion strategisch aufzugreifen und in allen Organisationsebenen zu etablieren, wie von Silke Mehre beschrieben. Beteiligungsformate sind außerdem ein Thema der Personalentwicklung – ein Zusammenhang, der manchmal vielleicht erst auf den zweiten Blick deutlich wird. Aber wie sollen Mitarbeitende die Kinder- und Jugendhilfe partizipativ gestalten, wenn sie selbst im eigenen Unternehmen kaum beteiligt werden? Partizipative Leitungs- und Führungsstrukturen spielen somit eine wichtige Rolle und beeinflussen den Erfolg von Beteiligungsformaten.
Ein Bereich, in dem Partizipation immer wieder gefordert wird, ist der Gewaltschutz in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Auch das ist ja schon lange Thema in vielen Einrichtungen, oder?
Silke Mehre: Ja, Gewaltschutz spielt schon seit vielen Jahren eine wichtige Rolle, hat aber durch das KJSG noch mal an Brisanz gewonnen: Mit dem KJSG sind alle betriebserlaubnispflichtigen Einrichtungen der Jugendhilfe verbindlich dazu verpflichtet, Schutzkonzepte vorzuhalten. Bleibt dies aus, droht im schlimmsten Fall ein Entzug der Betriebserlaubnis. Sie sind ein wichtiges Querschnittsthema von Qualitätsmanagement und partizipativer Unternehmenskultur. Um den Schutzauftrag in Einrichtungen zu gewährleisten, bieten sich individuelle Risikoanalysen an, um auf deren Grundlage Entwicklungspotenziale herauszustellen. Es geht aber nicht nur darum, Gewaltschutzkonzepte zu etablieren, sondern nachhaltig und mit allen Beteiligten Gewaltschutz zu leben. Gleichwohl: ein einhundertprozentiger Schutz kann auch durch das beste Gewaltschutzkonzept nicht garantiert werden – man kann aber für eine höhere Erfolgschance sorgen, wenn die Grundlagen des Gewaltschutzes partizipativ entwickelt und laufend angepasst werden.
Wir haben über Herausforderungen gesprochen, die aktuell oder zukünftig auf die Kinder- und Jugendhilfe zukommen. Wenn Sie noch einmal für sich persönlich bilanzieren: Welche Ziele möchten Sie durch Ihre Beratungstätigkeit erreichen?
Silke Mehre: Die Inhalte, mit denen wir uns im Feld der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen, liegen mir sehr am Herzen. Die Branche hat in den letzten Jahren bewiesen, dass sie mit großen Herausforderungen umgehen kann und ich denke, das wird auch zukünftig gelingen, doch es braucht innovative Ansätze und das sogenannte „Thinking out of the Box“. Denn jetzt ist sie gefordert, raus aus dem Krisenmodus und rein in die strategische Weiterentwicklung zu kommen. So kann Kinderschutz gesichert und positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien gewährleistet werden. Ich verstehe mich dabei als fachliche, beratende und unterstützende Sparringspartnerin mit dem hilfreichen Blick von außen!
Claudia Langholz: Ich denke, die anstehenden Veränderungen bieten großes Potenzial für eine Neuausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Es ist aktuell eine gute Zeit des Umbruchs, in der wir Fachlichkeit, Dienstleistungsorientierung und Wirtschaftlichkeit weiterentwickeln und Veränderungen größer denken können und auch sollten. Ich freue mich, diese Strategieentwicklungsprozesse und deren Umsetzung zu begleiten.
Vielen Dank, Ihnen beiden, für das Gespräch!
Interview: Leonie HeckenTitelbild: © VadimGuzhva/ Adobe.Stock
Birgitta Neumann
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