Innovation und Digitalisierung in der stationären Pflege
Die Frage, ob digitale Helfer in der Pflege Arbeitsplätze kosten könnten, kann getrost als nicht mehr zeitgemäß bewertet werden. Pflegefachkräfte und Expert*innen sind sich einig, dass Menschlichkeit in der Pflege nicht durch Roboter zu ersetzen ist; der Einsatz bspw. von Pflegerobotern (und noch viel mehr und viel wichtiger von diversen anderen, weniger spektakulären, aber im besten Sinne ‚smarten‘ technologiebasierten Helfern im Alltag) kann aber eine Erleichterung in der körperlichen Anstrengung bedeuten und somit zu einer Attraktivitätssteigerung des Berufs führen. Und genauso wichtig: die neuen Lösungen werden den Menschen neue Wahlmöglichkeiten bieten: will z. B. ‚mann‘ sich zum Rasieren wirklich in die Abhängigkeit von den (zeitlichen) Ressourcen einer Pflegekraft begeben, wenn ein motorisch kompetenter Roboter dasselbe leisten und Sensortechnik im Haus jederzeit das Barbiersalon-Ambiente hinreichend sicherstellen kann? Dennoch sind Themen wie digitale Pflege und eHealth nach wie vor mit vielen Fragezeichen versehen. Digitalisierung wird zwar als Chance begriffen, aber zu welchem Preis? Mit welchen Risiken ist die voranschreitende Digitalisierung der Pflege verbunden? Wir bringen etwas Licht ins Dunkel.
Die Zukunft der Pflege – welchen Stellenwert hat Digitalisierung wirklich?
„Pflege am Limit“ lautet der Slogan des Aktionsbündnisses „Pflege steht auf“, das sich im Februar wieder zusammengetan hat, um sich in den pflegepolitischen Dialog einzumischen. Die Kernsorge der Initiatoren: jenseits der Sonntagsreden findet Pflege nicht die Anerkennung und seriöse Beachtung, die sie verdient – mit der Folge politischer Entscheidungen, die zwar Aktivität signalisieren, aber nicht für Nachhaltigkeit stehen. Angesichts der bisherigen Ergebnisse herrscht auch eher Zurückhaltung darüber, wie sich die so genannte ‚Konzertierte Aktion Pflege‘, aufgerufen von gleich drei Bundesministerien, hier einfügen wird. Die ‚Digitalisierung‘ ist jedenfalls auch hier explizit bearbeitetes Thema im Hoffnungsträger-Status. Doch wird sie wirklich alles besser machen? Die konzertierte Aktion Pflege widmet dem Thema in einer eigenen Arbeitsgruppe Raum. Die AG 3 „Innovative Versorgungsansätze und Digitalisierung“ hat u. a. zum Ziel, „die Zettelwirtschaft abzuschaffen“, die Telepflege zur Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zu stärken und Pflegekräfte von Anfang an in die Digitalisierung von Abläufen einzubinden. Klingt als Grundposition sehr plausibel und themengerecht – aber wie fügt es sich in das reale Bild der Branche ein?
Alternativer Blick: Chancen und Risiken der Digitalisierung aus Perspektive der Pflegeeinrichtungsbetreiber
Mit der Studie „Unternehmerisches Wagnis in der stationären Pflege“, veröffentlicht im Januar 2018, hat sich das IEGUS Institut für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft erstmals der Aufgabe gestellt, das Unternehmerrisiko der Betreiber in der Pflegebranche greif- und quantifizierbar zu machen. Detailliert wurden die Rahmenbedingungen der Branche analysiert, um deren Chancen und Risiken abzuleiten. Werturteile zu treffen und objektiv zu begründen war der Kern der Studie. Im Feld ‚Innovation und Technik‘ waren notwendigerweise auch die Aspekte der Digitalisierung in ihrer Eigenschaft als Chance oder Risiko bezifferbar zu machen. Dabei sind die Auswirkungen der Innovationen im Pflege- und Medizinbereich in Hinblick auf die Risikobewertung durchaus ambivalent: Einerseits haben einige Innovationen das Potenzial, die Nachfrage nach stationärer Pflege zu senken, weil sie bspw. einen längeren Verbleib in der häuslichen Umgebung ermöglichen. Andererseits stellen die bereits eingangs erwähnten möglichen Arbeitserleichterungen durch viele Innovationen eine Chance dar, den Beruf attraktiver zu machen und Pflegekräfte länger im Beruf zu halten. Die verschiedenen Risikofaktoren im Bereich Innovation und Technik wurden auf einer Skala von 1 = maximale Chance bis 10 = maximales Risiko eingeordnet. Insgesamt wurden vier Faktoren hinsichtlich ihres Risikofaktors im Bereich Innovation und Technik bewertet: Nachfragesenkung durch Innovationen und Digitalisierung, Arbeitserleichterung durch Innovationen und Digitalisierung, Beförderung von Prävention und Rehabilitation sowie Überwindung der Sektorengrenzen. Bei der Bewertung der einzelnen Aspekte unterscheidet die Studie zwischen medizinisch-pflegerischen Innovationen und technischen Innovationen.
Eintrittswahrscheinlichkeit minimiert Chancen, Risiken halten sich in Grenzen
Der Aspekt einer potenziellen Nachfragesenkung durch Innovationen und Digitalisierung kann aus Sicht der stationären Pflege das Unternehmerwagnis in zweierlei Hinsicht beeinflussen: denkbar ist eine Verschiebung der Nachfrage in den ambulanten Bereich oder sogar eine insgesamte Abnahme der Nachfrage nach Pflegeleistungen an sich. Als Beispiel für solche Innovationen sei hier auf die Möglichkeiten ‚smarter‘ Sensortechnologie zur Gestaltung des Wohnumfeldes, bis vor einiger Zeit mit dem inzwischen gescheiterten Begriff des Ambient Assisted Living (AAL) verbunden, hingewiesen, mit deren Hilfe die Möglichkeit eines deutlich längeren Verbleibs in der eigenen Häuslichkeit prognostiziert wird. Das Risiko für die stationäre Pflege i. S. einer Nachfragesenkung wird in beiden Bereichen (medizinisch-pflegerisch und technisch) mit 6 aber als relativ gering eingestuft. Grund dafür ist die bis auf längeres weiteres eher gering eingeschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit eines flächendeckenden Einsatzes von dieser Technologie, denn trotz einer hohen technologischen Reife ist bislang nur wenig über einige Pilotprojekte hinaus umgesetzt worden. Es fehlt noch an dauerhaft erfolgsversprechenden Geschäfts- und Finanzierungsmodellen im Regelbetrieb.
Als eine mit 5 (medizinisch-pflegerisch) bzw. 4 (technisch) vorsichtig bewertete Chance klassifiziert die IEGUS-Studie die Arbeitserleichterung durch Innovationen und Digitalisierung. Entlastungen können auf Ebene der Arbeitsabläufe entstehen, bspw. durch elektronische Dokumentation und Informationssammlung. Die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Beteiligten können entscheidend verbessert werden. Innovative neue Medikamente und Medikationsschemen wie auch neu definierte Prozesse der Behandlungspflege können das Pflegemanagement insgesamt verbessern. Es ist inzwischen eine Vielzahl sensorgestützter smarter Monitoringsysteme verfügbar, die die Pflegekräfte in zeitaufwändigen Maßnahmen der Krankenbeobachtung zu entlasten. Auch hier ist die vorsichtige Chancen- und Risiken-Bewertung auf die angenommene Eintrittswahrscheinlichkeit zurückzuführen, also die Frage nach der Realisierungsgeschwindigkeit und -durchdringung bei fehlenden Finanzierungsreizen in der Regelversorgung.
Die Beförderung von Prävention und Rehabilitation wird seit langem von der Politik gefordert und allgemein gewünscht, genauso wie eine nachhaltig aktivierende Pflege. In der Realität sind diese Aspekte leistungsrechtlich allerdings nur punktuell verankert und von gegenwirkenden Anreizmechanismen beeinflusst. Solche Maßnahmen können Pflegebedürftigen genauso helfen wie deren pflegenden Angehörigen, die häufig hohem körperlichen wie psychischen Stress ausgesetzt sind. Die Studienautor*innen bewerten den Risikofaktor hier neutral (5,5 =Median), da dieser Aspekt sowohl mit Chancen (der künftigen Möglichkeiten und des ‚eigentlich‘ bestehenden gesellschaftlichen wie politischen Willens) als auch mit Risiken (Status Quo der komplexen Sektorisierung und kontrainduzierten Anreizmechanismen) verbunden ist.
Als letzter Aspekt sei die Überwindung der tradierten ‚Sektorengrenzen‘ genannt. Die noch immer ziemlich starre Trennung von ‚ambulant‘ und ‚stationär‘ in der Pflege ist auf rechtlicher, finanzieller und struktureller Ebene verankert und wird seit Jahrzehnten praktiziert. Um eine möglichst praxisnahe, sachgerecht abgestufte Angebotspalette entlang der tatsächlichen Bedarfe der Menschen zu gewährleisten, sind viele Bemühungen erkennbar, sinnvoll verknüpfte Konzepte ‚aus einer Hand‘ umzusetzen. Die Bereitschaft fast aller Pflegeeinrichtungsbetreiber zu so genannten hybriden (übergreifenden) Angebotskonzepten und intensiver Netzwerkarbeit mit offensichtlicher Chance auf die Nutzung übergreifender Synergieeffekt lässt die Studienautor*innen diesen Aspekt eher als gewisse Chance der Risikoklasse 4 bewerten.
Keine Panik vor der Digitalisierung
Die Digitalisierung wird Einzug in die Pflege erhalten. Die relativ zurückhaltenden Risikobewertungen zeigen, dass nichts ‚revolutionär‘ von heute auf morgen passiert und Leistungsanbieter unvorbereitet treffen muss. Dennoch lohnt es sich, die Vorbereitung proaktiv anzugehen. Nichtsdestotrotz müssen auch Strukturen nachziehen und Fragen der Finanzierung sowie des Schulungsbedarf substantieller geklärt werden.
Text: Marie Kramp, Michael UhligEva Lettenmeier
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