Inklusive Kinder- und Jugendhilfe – Es ist Zeit für eine Annäherung der Systeme!
Der erste Anlauf eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich zu verankern ist zum Bedauern sämtlicher Fachverbände kläglich gescheitert. Dennoch sollten sich die Träger nun nicht zurücklehnen und warten bis die Politik die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen schafft. Schon heute sind viele soziale Einrichtungen der Erziehungshilfen gefordert, inklusive Lösungen zu schaffen.
Studien zufolge besuchen rund zwei Drittel der Kinder mit Behinderung eine Kindertagesstätte, in der die Mehrheit der Kinder keine Beeinträchtigung hat. Immer häufiger kommt es in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen die von Behinderung betroffen oder bedroht sind. Vielerorts spricht man bereits von Inklusionsverlierern: solchen Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, die dem Mangel an adäquaten Strukturen, Ressourcen und Zugängen zum Opfer fallen. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, gilt es jetzt vor Ort inklusive Strukturen weiterzuentwickeln, die ganzheitlich gegenseitige Zugänge ermöglichen und Erfahrungen der Ausgrenzung abbauen.
Die Überwindung des Integrationsverständnisses
Um der derzeitigen Inklusionsdebatte gerecht werden zu können, muss der Begriff von Integration überwunden werden, der in der Migrationsdiskussion die Lebenserfahrungen von Generationen von Migrantlnnen entwertet und von diesen eine einseitige Anpassung verlangt hat. Was kann mit dem Inklusionskonzept im Kontext von Jugend- und Behindertenhilfe anders bzw. besser gesehen und eingefordert werden? Und wie kann das Konzept der Inklusion, das für die Jugendhilfe die Ausgrenzung von Kindern mit Behinderungen überwinden will, auf die besonders zugespitzte Situation von Kindern und Jugendlichen übertragen werden, die auf Dauer keinen Platz in Kindertagesstätten, Schule und Arbeit gefunden haben? Dies sind verschiedene Ziele und offene Fragen, die darüber hinaus durch ein unklares Verständnis des Inklusionskonzepts belastet sind.
Das Inklusionsdilemma
Die oben genannten offenen Fragen und verschiedenen Ziele stellen die Beteiligten vor ein Dilemma: Sie stehen nicht vor einer Wahl zwischen zwei gleichermaßen schlechten Alternativen, sondern müssen sich vielmehr zwischen zwei positiven Qualitäten entscheiden. Sicher wären eine bedarfsgerechte Förderung und Hilfe sowie gleichsam eine Inklusion aller in Regelinfrastrukturen zweifelsfrei wünschenswert. Eine vollkommene und alternativlose Lösung, die alle Beteiligten und Betroffenen rundherum zufrieden stellen könnte, scheint angesichts der Systemgrenzen momentan nicht möglich. Bei der Ausstattung von inklusiven Hilfsangeboten zwischen zwei gleichermaßen wünschenswerten Alternativen wählen zu müssen oder einer Alternative zu Lasten der anderen ein größeres Gewicht beizumessen, führt zunächst zu einer scheinbar ausweglosen Zwangslage. Dieser tatsächlich zu entrinnen, erfordert die Erkenntnis, dass Inklusion nicht die Integration einer Zielgruppe in ein bestehendes System bedeutet, sondern die Entwicklung neuer Konzepte erfordert.
Es geht aber doch!
Sollen nun auch Krisen und Konflikte von Kindern und Jugendlichen einbezogen werden, die zu Leistungsversagen und Leistungsverweigerung führen, werden diese in der aktuellen Inklusionsdiskussion meist als „Verhaltensstörung“ definiert. Sie werden als besondere Belastung und psychologisches Problem ausgelagert, Betroffene z.B. durch Schulhelferlnnen betreut.
Es geht jedoch auch anders: In Thüringen beispielsweise ist dieses Jahr ein Landesprogramm für Jugendsozialarbeit in Kraft getreten, das diese unterschiedlichen Belastungen von Kindern und Jugendlichen anerkennt. Darin wird Schulsozialarbeit alsfeste Einrichtung in Schulen mit dem Auftrag verankert, Kinder und Jugendliche vor Ausgrenzung und Scheitern zu schützen und ihnen soziale Anerkennung zu ermöglichen. Explizit werden hier Krisen und Konflikte als bedeutsam hervorgehoben und so Raum für das Verständnis von Lebenssituationen, für Anliegen und Bedürfnisse von Schülerlnnen und Eltern eröffnet.
Verschiedene Aufträge – ein Ziel?
Will man die Frage klären, welche Rolle die Jugendhilfe bei der Vermittlung von Inklusionschancen hat, muss zuerst eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aufträgen der Jugendhilfe einerseits und der Behindertenhilfe anderseits erfolgen:
Unterschiedliche Strukturen
Die unterschiedliche Ausdifferenzierung beider Hilfesysteme lässt auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass es nur schwer oder gar nicht möglich ist, ein gemeinsames Bild und somit ein gemeinsames Hilfeprodukt für Kinder- und Jugendliche zu entwickeln. Hinzu kommt die in der Fachwelt noch wenig erörterte Frage, ob und wie die Fallzuständigkeit (vor allem finanziell) nach eintreten der Volljährigkeit geregelt werden könnte. Bisherige Überlegungen bleiben nur sehr abstrakt und berücksichtigen noch nicht die Auswirkungen des BTHG auf das SGB VIII.
Trotz getrennter Welten gibt es Verbindendes!
Wer sich mit den beiden Hilfesystemen genauer auseinandersetzt, erkennt bei all den Unterschieden Möglichkeiten gegenseitiger Anknüpfungspunkte:
- Gemeinsames Verständnis der Sozialen Arbeit
- Zielgruppe der Jugendlichen mit seelischen Behinderungen (§35a SGB VIII)
- Gleicher Auftrag gem. § 1 SGB VIII und § 1 ff. SGB IX
- Vergleichbare Einrichtungstypen und Leistungsformen
Diese gemeinsamen Grundannahmen stellen die Grundlage neuer Konzeptentwicklungen dar und bieten den Einrichtungen beider Hilfeformen neue Möglichkeiten zur Entwicklung sinnhafter inklusiver Wohn- und Betreuungsformen.
Wie kann eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe aussehen?
Ein einheitliches Leistungsspektrum der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe wird es wohl auch in ferner Zukunft nicht geben. Sicher aber Konzepte, die den Erwartungen an eine inklusive Gesellschaft und somit dem Bild sinnhafter Sozialformen gerecht werden kann. Handlungsleitend sollte immer die Frage sein: Kann ein Kind- oder Jugendlicher bzw. deren Eltern von einer Maßnahme profitieren?
Ansätze zur Entwicklung neuer Konzepte in der Jugendhilfe sollten daher sein:
- Bewusstsein der Notwendigkeit verschiedener Disziplinen
- Finanzierung der verschiedenen Angebote aus einer Hand (Kostenträger)
- Angebotsplanung aus einer Hand
- Prüfung, wo gemeinsame Förderung möglich und sinnvoll ist
- Differenzierung, wo Förderung nötig und erforderlich ist
Herausforderungen für die Jugendhilfe
Die Aus-/Fortbildung von Fachkräften wird sicher die größte Herausforderung für den Bereich der Jugendhilfe sein. Es müssten neue Weiterbildungskonzepte erarbeitet werden, die einen pflegerischen Anteil beinhalten. Ebenso müsste die Auslegung der sogenannten Fachkräfteverordnung bundesweit einheitlich erfolgen. Je nach baulichen Voraussetzungen müssten Einrichtungen barrierefrei umgebaut werde. Das wiederum steigert die betriebsnotwendigen Investitionen und erschweren ggf. folgende Entgeltverhandlungen mit dem zuständigen Kostenträger.
Wo liegen die Chancen für die Jugendhilfe?
Neue Konzepte inklusiver Strukturen würden für Eltern und Familien nur noch eine Anlaufstelle bedeuten. Sie erhielten Hilfen aus einer Hand und müssten sich nicht mehr durch den Behördendschungel kämpfen.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen erhielten Zugang zur Erziehungshilfe und würden somit eine entlastende Unterstützung erfahren. Gemeinsame Lebens- und Förderräume für alle Kinder und Jugendlichen könnten wachsen, die stärker als bisher gemeinsame Lebenswelten und soziale Zugehörigkeiten erleben ließen.
Wenn Eltern und junge Menschen Hilfen aus einer Hand erhielten, würden kostenrelevante Doppelstrukturen wegfallen.
Fazit
Das derzeitige Inklusionsdilemma spricht eine klare Sprache: Es ist Zeit für eine Annäherung der Systeme Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe. Es gilt, Systemgrenzen zu überwinden und auf Basis gemeinsamer Grundannahmen Möglichkeiten zur Entwicklung neuer inklusiver Angebotsformen zu schaffen. Die Herausforderungen bei der Verknüpfung von Disziplinen, Einrichtungen und Angeboten liegen im Detail und erfordern unter Umständen zunächst Wagnisse in finanzieller und organisatorischer Hinsicht. Klar ist jedoch auch, dass sich Träger beider Hilfesysteme das Warten auf neue Ansätze des Gesetzgebers nicht erlauben können, sondern vielmehr gefordert sind, jetzt selbst aktiv zu werden.
©oneinchpunch - Fotolia
Birgitta Neumann
Sie haben Fragen rund um das Thema inklusive Kinder- und Jugendhilfe? Sprechen Sie uns unverbindlich an!