Ideathon Eingliederungshilfe: Innovative Lösungen für mehr Teilhabe
Wie kann gesellschaftliche Teilhabe gelingen – trotz Corona-Pandemie? Zu dieser Frage veranstaltete contec den „Ideathon Eingliederungshilfe – quo vadis?!“, bei dem es um den Austausch von Ideen und die Entwicklung von innovativen Lösungsansätzen in Form von Prototypen ging. Der Begriff Ideathon setzt sich aus den Wörtern Idea und Marathon zusammen und ist im Grunde genommen genau das, was der Name vermuten lässt: In einem möglichst kurzen Zeitraum versuchten die Teilnehmenden, Lösungsansätze zu finden, um dem Spannungsfeld von gesetzlich verankerter Teilhabe einerseits und Rückfällen in alte Muster durch die Pandemie andererseits etwas entgegen zu setzen. Die wichtigsten Erkenntnisse und Ergebnisse des Challenge Workshops sowie des Ideathon-Wochenendes möchten wir hier mit Ihnen teilen.
Zwischen BTHG und Corona: Ideathon setzt auf Partizipation und Multiperspektivität
Der Ideathon begann mit einem Challenge Workshop, zu dem verschiedenste Akteur*innen der Branche, Menschen ohne Branchenbezug sowie Menschen mit Behinderungen als Expert*innen ihrer eigenen Bedarfe und Bedürfnisse zusammenkamen. Ziel war es, Themen und Herausforderungen zusammenzutragen, die die Menschen in ihrem alltäglichen Leben bewegen und vor Barrieren stellen. Dabei wurde deutlich, dass nach wie vor das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Branche der Eingliederungshilfe und alle ihre Beteiligten vor große Herausforderungen stellt. Der Erfahrungsaustausch führte zu der Einsicht, dass die im BTHG postulierte Selbstbestimmung und das Credo „weg von der Fürsorge hin zu mehr Teilhabe“ noch nicht in allen Köpfen der Gesellschaft und Organisationen der Leistungserbringung verankert sei. Die Personenzentrierung in der Leitungserbringung zu stärken, stecke laut den Expert*innen noch in Kinderschuhen.
Verschärft wird diese Problematik durch die im letzten Frühjahr einsetzende Corona-Pandemie: Lockdown, Kontaktbeschränkungen, ein eingegrenzter Bewegungsradius, die Isolation in den eigenen vier Wänden. Durch die Schließung von Werkstätten verloren die Betroffenen nicht nur ihre Arbeit, sondern in vielen Fällen fiel auch ein Großteil ihrer sozialen Kontakte weg. Die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen wurden durch die Corona-Pandemie besonders erschwert, weil auch ihr Selbstbestimmungsrecht darunter zu leiden hatte. In vielen Bereichen gab es Rückfälle in überwunden geglaubte Handlungsmuster, die einer Bevormundung gleichkamen.
In beiden Bereichen – BTHG-Umsetzung und Corona-Pandemie – zeigte sich deutlich, dass eine fehlende barrierefreie digitale Infrastruktur den Prozess hin zu mehr Selbstbestimmung lähmt. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am digitalen Alltag ist noch in weiter Ferne, dabei könnten digitale Hilfsmittel auch die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts und damit die Umsetzung des BTHG begünstigen. Zudem führte die Corona-Pandemie zu noch mehr Verunsicherung durch die ausschließlich digitale Form der Kommunikation während der Kontakteinschränkungen.
Mit dem Ideathon hat nun erstmalig ein digitales Format stattgefunden, dass sich den Kern-Herausforderungen gewidmet hat und dabei auf Partizipation und Multiperspektivität setzte. Sowohl Menschen mit Behinderungen, Leistungserbringende, sozial Engagierte (also fachfremde Menschen) als auch IT-Expert*innen diskutierten gemeinsam über das komplexe Thema der gesellschaftlichen Teilhabe. Um das Problemverständnis zu schärfen und realitätsnahe Lösungsansätze hervorzubringen, kamen verschiedene innovationsfördernde Methoden wie Brainstorming, moderierte Gruppendiskussionen, Kontextanalysen und Experteninterviews zum Einsatz. Durch die verschiedenen Blickwinkel, das sehr unterschiedliche Know-how und den unverstellten Blick verschiedener Erfahrungsträger*innen, auch aus anderen Branchen, bekam das Projektformat eine inhaltliche Breite sowie Tiefe.
Der Schlüssel zum Erfolg: die richtigen Fragen stellen
Mithilfe sogenannter WKW-Fragen („Wie können wir…“-Fragen) konkretisierten die Teilnehmenden die identifizierten Probleme. Mit dieser Methode gelang es, Konflikte und Herausforderungen in inspirierende Fragen umzuformulieren. Die dabei immer gleichen einleitenden Worte „Wie können wir…“ bildeten eine ideale Grundlage, um die Frage so positiv, offen und lösungsorientiert wie möglich zu formulieren. Insgesamt wurden neun WKW-Fragen formuliert, von denen im zweiten Teil des Ideathons drei bearbeitet wurden:
- Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderungen sich im digitalen Raum besser orientieren und selbstständig bewegen können, ohne sie zu bevormunden?
- Wie können wir Menschen mit Behinderungen befähigen, ihr eigenes Budget zu verwalten, ohne dass übermäßige wirtschaftliche Risiken für irgendjemanden entstehen? Wie kann eine Lösung aussehen, die selbst eine Leistung zur Teilhabe ist, d. h. über das Budget finanziert werden kann?
- Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderungen Zielerreichung und Leistungserbringung bewerten und dies in die Leistungsdokumentation einfließt?
Zu den einzelnen WKW-Fragen bildeten sich am Ideathon-Wochenende dann Arbeitsgruppen, die zum Ziel hatten, passende Konzepte oder sogar Prototypen für digitale Tools zu entwickeln, die helfen sollen, Barrieren in der Alltagsbewältigung zu überwinden. Am Ende der Veranstaltung standen zwei Prototypen für solche Tools, die unter Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen entwickelt wurden. Die ebenfalls am Workshop teilnehmenden IT-Expert*innen stellten dabei sicher, dass die Prototypen auch technisch realisierbar waren. Folgende Prototypen sind entstanden:
Prototyp 1: „Digitale Brücke“ – Selbstbestimmte Orientierung im digitalen Raum
Schon in der Einführung des Workshops zeichnete sich das Problem ab, dass die digitale Welt insbesondere für Menschen mit kognitiven Einschränkungen sehr komplex und voller Barrieren ist: Kaum leichte Sprache, dafür aber unbegrenzte Möglichkeiten und Querverweise sowie werbliche Ablenkungen von Websites und Apps. All diese Dinge führen zu Desorientierung und die digitale Teilhabe wird dadurch massiv eingeschränkt. Doch gerade das Kontakteknüpfen im Chat oder das Einkaufen im Web sollten in der Corona-Pandemie Abhilfe schaffen, um den geforderten Kontaktbeschränkungen zu entsprechen: vielfach ein Hindernis für kognitiv eingeschränkte Menschen. An dieser Stelle setzt das Tool „Digitale Brücke“ an. Über Schnittstellen soll es an bestehende Portale wie Tinder oder Amazon angebunden sein, den Weg dorthin aber erleichtern. Die benutzer*innenorientierte Oberfläche ist werbe- und damit ablenkungsfrei. Eine einfache Navigation über Sprachsteuerung und über das Anklicken von Symbolen sowie eine interaktive Lotsenfunktion verbessern die Orientierung im digitalen Raum.
Prototyp 2: „Hier geht’s um mich“ – Leistungen und ihre Qualität direkt, aktiv und souverän bewerten
Bei diesem Prototyp eines digitalen Tools steht Partizipation im Vordergrund. Das Bundesteilhabegesetz sieht vor, dass Menschen, die Leistungen zur Teilhabe beziehen, diese auch bewerten sollen. Die neue Form der Leistungsdokumentation soll die Wirksamkeit von Teilhabeleistungen transparent machen, was im Sinne aller Beteiligten ist. Um betroffenen Menschen mit dieser Aufgabe keine neuen Hürden aufzubürden, bietet das Assistenztool „Hier geht’s um mich“ allen Nutzer*innen entsprechend ihrer Fähigkeiten die Möglichkeit, entweder über Text- oder Spracheingabe Bewertungen durchzuführen. Wahlweise stehen bei der Nutzung – je nach Bedarf – Leichte Sprache, Einfache Sprache oder Alltagssprache zur Verfügung. Ebenso berücksichtigt das Tool unterschiedliche Aufmerksamkeitsspannen der Nutzer*innen und meldet sich proaktiv mit Interaktionsaufforderungen. Die erfassten Daten können dann an die zuständige „Behörde“ übermittelt werden.
Ein Themenspeicher als Innovationsmotor
In Folge der beiden Ideathon-Workshops und anhand der Prototypentwicklung innerhalb kürzester Zeit hat sich gezeigt, was möglich ist, wenn Leistungsempfänger*innen und Leistungserbringende auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Die intensive Kooperation unter Austausch diverser Blickwinkel auf die Branche hat viele Ideen für eine nachhaltige Gestaltung der Eingliederungshilfe hervorgebracht. Der zurückliegende Ideathon ist als solcher abgeschlossen, hat aber Türen für weitere Aktivitäten geöffnet. Einerseits geht es jetzt darum, die entwickelten Prototypen zu Produkten weiterzuentwickeln und zu einer Marktreife zu bringen, sodass sie einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen leisten können.
Andererseits sind viele weitere Ideen in einem Themenspeicher untergekommen, der zu weiteren Diskussionsformaten und Produktentwicklungen einlädt. Aus dem digitalen Projektformat hat sich unter den beteiligten Akteur*innen ein offenes Innovationsnetzwerk herausgebildet, in dessen Rahmen die Beteiligten weiter an den Problemfeldern arbeiten und die Eingliederungshilfe aus Sicht der Leistungsempfänger*innen langfristig weiterentwickeln wollen. Das Netzwerk befindet sich in den Startlöchern und Interessierte aus Leistungserbringung oder öffentlicher Verwaltung sind ebenso willkommen wie Betroffene, Angehörige, Ehrenamtliche und Interessierte.
Wir danken den Mitwirkenden beim Ideathon!
Eine Begleitung und beratende Unterstützung durch Expert*innen unterschiedlichster Fachbereiche, wie beispielsweise Leichte Sprache, gesetzliche Rahmenbedingungen oder auch technische Umsetzungsmöglichkeiten, war über den gesamten Verlauf des Ideathons gewährleistet. Mit dabei waren:
- Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
- Kanzlei BERNZEN SONNTAG
- Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB)
- Franz Sales Haus
- Diakoneo
- Vediso e.V.
- VRG MICOS
Mehr Informationen zu unserem Partner*innennetzwerk finden Sie auf der Veranstaltungsseite.
Text: Sarah Rütershoff / Dr. Jan Schröder© sofiko14
Dr. Jan Schröder
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