Haftungsrecht und Aufsichtspflicht: Tipps zu Prävention und Ernstfall
Das organisationale Wissen über das Haftungsrecht in sozialen Organisationen, also z. B. darüber, wer für einen Schadensfall haftbar gemacht wird, ist – so unsere Erfahrungen aus Organisationsanalysen – zum Teil nur oberflächlich in den verschiedenen Organisationsebenen vorhanden. Auch das Top-Management unterschätzt unserer Erfahrung nach manchmal die Komplexität der persönlichen und organisationalen Haftung. Gerade im Bereich der Aufsichtspflicht kann es im Alltag sozialer Einrichtungen zu komplexen Gemengelagen kommen. Um einerseits schädigenden Vorkommnissen vorzubeugen und andererseits im Ernstfall zu wissen, wer haftet und wie man mit der Situation umgeht, ist es wichtig, die verschiedenen Aspekte des Haftungsrechts und die Haftungsebenen zu kennen. Außerdem geben wir Ihnen heute Tipps zur Prävention und für den Umgang mit dem Ernstfall.
Personenzentrierung kann unter zu großer Vorsicht leiden
Im Strafrecht ist die Sachlage meistens relativ eindeutig: Jede*r steht für sein eigenes Fehlverhalten ein. Doch wer haftet, wenn z. B. ein*e Bewohner*in einer besonderen Wohnform oder ein*e Beschäftigte einer Werkstatt zu Schaden kommt, insbesondere wenn kein Vorsatz vorliegt? Und was passiert, wenn ein*e Besucher*in Ihrer Einrichtung durch eine*n Nutzer*in zu Schaden kommt? Die fehlende Kenntnis der verschiedenen Haftungsebenen und des Haftungsrechts in einer Organisation der Eingliederungshilfe birgt verschiedene Risiken:
- Unter Mitarbeitenden bilden sich diffuse Ängste vor Pflichtverletzungen, Unsicherheit macht sich breit
- Aus Angst davor, für einen Schaden belangt zu werden, achten sie u. U. eher auf den Schutz der Nutzer*innen, als deren Selbstbestimmung zu fördern. Das kann dazu führen, dass die Personenzentrierung und das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe eingeschränkt werden
- Führungskräfte haben ihr persönliches Haftungsrisiko nicht präsent und sind für den Ernstfall nicht vorbereitet
Haftungsrecht in sozialen Organisationen
Besondere Vorkommnisse, Unfälle oder im schlimmsten Fall sogar vorsätzliche Straftaten kommen in Organisationen der Eingliederungshilfe leider vor. Das ist im Leben außerhalb von Einrichtungen auch nicht anders. Unter den Themenkomplex Haftungsrecht fallen verschiedene Bereiche. Ein Beispiel, das uns häufig in der sozialrechtlichen Beratung begegnet, sind große Unsicherheiten bezüglich der Aufsichtspflicht, gerade in besonderen Wohnformen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Wer kann zur Verantwortung gezogen werden?
Betreuungskräfte können für persönliche Fehler zur Verantwortung gezogen werden, aber auch verantwortliche Pflege- und Betreuungskräfte können für Fehler des Betreuungspersonals haftbar gemacht werden. Auch der Dienstherr kann für Verschulden der Bediensteten haften. Zu guter Letzt kann auch ein*e Bewohner*in oder Beschäftige*r für eigene Fehler einstehen müssen.
Wofür kann man zur Verantwortung gezogen werden?
Etwas vereinfacht kann man sagen: Wer jemandem durch einen Fehler schadet, muss dafür geradestehen. Es stellen sich dann in jedem Einzelfall verschiedene Fragen: Wer hat den Fehler begangen? Welcher Fehler hat zu einem Schaden geführt? Welcher Schaden ist entstanden? Das zeigt, dass kein Fall wie der andere ist und Verallgemeinerungen mit dem Ziel der absoluten Rechtssicherheit nur schwer möglich sind. Trotzdem kann man mit geeigneten Maßnahmen vorbeugen, damit das Haftungsrisiko für die Organisation und die individuell handelnden Personen möglichst gering ist.
Grundsätzlich gibt es drei Ebenen, auf denen Personen bzw. Organisationen haftbar gemacht werden können:
- Die betreuungsrechtliche Ebene
- Die strafrechtliche Ebene
- Die zivilrechtliche Ebene
Die Betreuung in einer besonderen Wohnform oder einer WfbM umfasst die tatsächliche oder soziale Betreuung. Im Gegensatz dazu hat der*die rechtliche Betreuer*in die rechtlichen Angelegenheiten zu regeln. Hier können haftungsrechtliche Schwierigkeiten entstehen. Es kommt z. B. in der Praxis immer wieder vor, dass rechtliche Betreuungspersonen von Mitarbeitenden der Eingliederungshilfe erwarten, dass sie Aufgaben, die eigentlich der gesetzlichen Betreuung vorbehalten sind, erledigen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn Mitarbeitende mit dem*der Betreuten zum Arzt gehen und stellvertretend für diese*n in eine medizinische Behandlung einwilligen, die dann zu einem Schaden für den*die Betreute führt. In diesem Fall haftet der*die Mitarbeiter*in dafür, weil er*sie das nicht darf. Entweder der*die Betreute hat den freien Willen zu entscheiden oder die rechtliche Betreuung hat die Einwilligung zu erteilen. Organisationsverschulden läge dann vor, wenn der*die handelnde Mitarbeite*in von dem Dienstherrn nicht darüber aufgeklärt wurde, wo die Grenzen der Betreuung liegen. Der*Die gesetzliche Betreuer*in oder auch der*die Betreute kann aus eigenem Recht Schadenersatz in Form von Schmerzensgeld oder anderem verlangen.
Strafrechtlich relevante Delikte in der Eingliederungshilfe können z. B. sein: Körperverletzung, Nötigung, Freiheitsberaubung, Misshandlung von Schutzbefohlenen oder sexuelle Delikte. Im Strafrecht haftet jeder persönlich für die eigene Tat. Auch wenn das Delikt tatbestandlich erfüllt ist, kann man sich jedoch rechtfertigen oder entschuldigt sein, z.B. weil Gefahr im Verzug war oder man die geschädigte Person selbst oder Dritte schützen wollte.
Maßgeblich im Haftungsrecht ist die zivilrechtliche Dimension. Hier geht es um Ausgleich von Schäden durch Fahrlässigkeit oder Vorsatz und die Haftung kann alle Ebenen der Organisation betreffen, je nach dem, wer einen Fehler gemacht hat, der zu einem schädigenden Ereignis geführt hat.
Jeder Fall ist individuell: Ein Beispiel
Nehmen wir einen Beispielfall, der so oder ähnlich in besonderen Wohnformen eintreten kann. Eine Fachkraft ist allein im Dienst in einer besonderen Wohnform, obwohl sie dies schon mehrfach als nicht tragbar an ihre Vorgesetzte gemeldet hat. Sie ist gerade bei einer Bewohnerin, die autoaggressives Verhalten zeigt und dabei ist, sich selbst zu verletzen. Währenddessen erleidet ein anderer Bewohner einen epileptischen Anfall, stürzt und fällt unglücklich auf den Kopf. Die Fachkraft bekommt dies mit leichter Verzögerung durch eine andere Bewohnerin mit und entscheidet sich, erst die Situation bei der autoaggressiven Bewohnerin unter Kontrolle zu bringen. Sie braucht somit länger, um einen Notruf abzusetzen und erste Hilfe zu leisten. Der gestürzte Bewohner erleidet bleibende Folgeschäden.
In diesem Fallbeispiel lassen sich gut die individuellen Fragen des Haftungsrechts durchspielen, die im Einzelfall entscheidend sind.
- War ausreichend und richtig qualifiziertes Personal vorhanden?
- Wenn nicht, war es der Gruppenleitung/Einrichtungsleitung/dem Management bekannt? Wurden Gegenmaßnahmen eingeleitet?
- War es ein Einzelfall oder eine Regelmäßigkeit, dass zu wenig Fachkräfte vor Ort waren?
- Hat ein*e Mitarbeiter*in fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt?
- Hat die Fachkraft im individuellen Fall richtig gehandelt, sich zuerst um die autoaggressive Person zu kümmern oder hat sie eine Fehlentscheidung getroffen?
Gab es Absprachen mit der autoaggressiven Bewohnerin oder deren gesetzlichen Betreuer über den Umgang mit diesem Verhalten?
Zivilrechtliche Verfahren um Schadensersatz oder Schmerzensgeld sind immer komplex und höchstindividuell, deshalb ist es wichtig, dass diese Fragen nicht nur beantwortet, sondern die Antworten auch belegt werden können, damit klar wird, wessen Verschulden vorliegt und ob überhaupt ein kausaler Zusammenhang zwischen einem möglichen Fehlverhalten und einem Schaden besteht.
Haftungsrecht: Tipps für die Praxis
Prävention: Eine gute Prävention ist das A&O. Gute und gelebte Schutzkonzepte, ausreichend Personal und eine transparente und professionelle Dokumentation sind wirksame Präventionsmaßnahmen. Es braucht außerdem klare Mechanismen, um Gefährdungslagen, z. B. bei Überlastung der Mitarbeitenden, frühzeitig zu erkennen und abzustellen. Das gilt für alle Organisationen gleichermaßen, sei es bei Angeboten zur Teilhabe an Arbeit oder auch in besonderen Wohnformen. Eine grundsätzliche und organisationsindividuelle Risikobewertung ist ebenfalls hilfreich.
Versicherungen: Prüfen Sie Ihre Versicherungen und schließen Sie ggf. weitere ab. Auch niedrigschwellige Angebote wie der contec Quickcheck Sozialrechtliche Beratung können hilfreich sein, um Einzelfälle schnell zu klären oder notwendige Maßnahmen einzuleiten.
Schulungen: contec bietet Schulungen für Mitarbeitende aller Unternehmensebenen an, vom Top-Management bis zur Fachkraft, um für das Thema Haftungsrecht zu sensibilisieren und die rechtssichere Handlungskompetenz aller Beteiligten zu erhöhen.
Vorbereitung für den Ernstfall: Kommt es zu einem Vorfall in Ihrer Einrichtung, sollten Sie auf ein Verfahren und die damit verbundene Kommunikation vorbereitet sein. Nicht jeder Haftungsfall wird zu einer manifesten Krise oder einem Skandal, aber es kann durchaus sein, dass die lokale Presse berichtet und schon kann aus einem Haftungsfall – egal, ob es ein individuelles oder ein Organisationsversagen ist – ein imageschädigendes Ereignis werden. Ein Krisennotfallplan ist immer hilfreich, weil er schnelles und richtiges Handeln ermöglicht.
Heike Brüning-Tyrell
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