Gesellschaft im Wandel: 1. Zukunftsforum Soziale Arbeit diskutiert den Status der Inklusion
Am 9. Mai ging das 1. Zukunftsforum Soziale Arbeit der contec GmbH in Berlin zu Ende. Im Mittelpunkt stand die Frage nach den Grundwerten einer inklusiven Gesellschaft, wie man diese in Zeiten des Populismus und der Wertediffusion erreichen kann und ob das Bundesteilhabegesetz der richtige Schritt zur Inklusion ist. Vor dem Hintergrund wurden konkrete Maßnahmen für eine zukunftsfähige soziale Arbeit diskutiert.
Berlin, 15. Mai 2019. „Eine inklusive Gesellschaft ist weder eine unerreichbare Utopie noch ist sie Realität, sie ist eine Realutopie, für die wir kämpfen müssen.“ Dieses Fazit zieht Pastor Uwe Mletzko, Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB) bei seiner Keynote zur Eröffnung des 1. Zukunftsforums Soziale Arbeit. Unter dem Thema „Gesellschaft im Wandel – Soziale Arbeit zwischen Wertediffusion und Menschenwürde“ diskutierten zwei Tage lang Vertreter*innen aus Eingliederungs-, Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialpsychiatrie über die Gestaltung der Branche in Zeiten von gesetzlich geforderter Inklusion und gesellschaftlicher Wertediffusion. Mit dabei waren Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende des Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., Prof. Dr. Lob-Hüdepohl, Ethiker von der Katholischen Hochschule Berlin, Erik Händeler, Zukunftsforscher, und viele weitere. Am Ende wurde deutlich: Inklusion ist weit mehr als eine Rollstuhlrampe und ein Aufzug am Bahnhof.
„Entsolidarisierende Solidarisierung“: Phänomene des Wertewandels
Inklusion wird häufig mit der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gleichgesetzt. Dabei steht der Begriff für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen einer Gesellschaft. Dies wird zum Beispiel dann vergessen, wenn Minderheiten wie die Wohnungslosen in Deutschland, die lange Zeit ignoriert wurden, plötzlich eine Solidarisierung aus der Mitte der Gesellschaft erfahren – die wiederum andere Personengruppen, wie Geflüchtete, ausschließt. Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl bezeichnet dieses Phänomen als entsolidarisierende Solidarisierung. In seinem Vortrag wies er deshalb nachdrücklich darauf hin, dass es bei der Inklusion um die Würde eines jeden Menschen geht und nicht um seinen Preis. „Echte Teilhabe für einen Menschen ist kein mentales Ereignis, sondern funktioniert nur über die Real-Erfahrung von Würde, von Zugehörigkeit und von dem Wissen, um seiner selbst Willen geachtet und respektiert zu werden.“
Digitale Transformation: Selbstzweck oder mehr Zeit für das Wesentliche?
Die Werte unserer Gesellschaft werden maßgeblich durch die Digitalisierung beeinflusst. Kommunikation läuft völlig anders als früher, geschlossene Systeme konkurrieren mit offenen Netzwerken. Prof. Dr. Andréa Belliger von der Pädagogischen Hochschule Luzern machte deutlich: Digitale Transformation ist weit mehr als Technologie. „Es geht nicht darum, jede Klientin oder jeden Klienten mit einem Smartphone auszustatten, es geht darum, eine Kultur und ein Mindset für eine digitale Gesellschaft zu erlangen. Zukünftige Werte basieren auf einer offenen Kommunikation, Partizipation, Transparenz, Empathie und Authentizität“, so Belliger. Obwohl die Mehrzahl der Teilnehmenden die Digitalisierung als Chance wahrnahm, wurde kontrovers über die sinnvolle Geschwindigkeit des Prozesses und den wirklichen Nutzen oder vermeintlichen Selbstzweck der Digitalisierung diskutiert. „Es geht nicht um Digitalisierung, es geht um gesellschaftliche Veränderung,“ fasste Dr. Stephan Peiffer von Leben mit Behinderung Hamburg die Kontroverse zusammen.
„Wir müssen unablässig nerven“: Ulla Schmidt warnt vor Rückwärtsschritten bei Inklusion
Der zweite Tag des Zukunftsforums widmete sich dem Bundesteilhabegesetz als Versuch der Bundesregierung, die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. In ihrer Keynote plädierte Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, dafür, dass das Mehrkostenargument nicht zu einer Begrenzung der Teilhabe führen darf. „Es geht immer um den Spagat zwischen Kostenbegrenzung und Teilhabe. Die umfassende Teilhabe eines jeden Menschen muss Aufgabe des Staates sein und dann darf es nicht am Geld scheitern.“ Gleichwohl stellte Schmidt heraus, dass noch nie so viel über das Wunsch- und Wahlrecht, die Selbstbestimmung und das Einkommen von Menschen mit Behinderungen gesprochen wurde wie im Kontext des BTHG. „Wir dürfen nicht lockerlassen. Es darf durch ein Teilhabegesetz keine Verschlechterungen geben.“
Über mögliche Verschlechterungen durch das BTHG klärte im Anschluss Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen, Rechtsanwalt bei BERNZEN SONNTAG, auf. Allein die Überprüfung der Wirksamkeit stelle eine große Herausforderung dar, der man zurzeit noch gar nicht begegnen könne, da es zwischen den Parteien – Kostenträgern, Leistungsberechtigten und deren Angehörigen sowie Leistungserbringern – keinen Konsens zur Abbildung von Wirksamkeit gebe. „Alle haben eben ein bisschen Recht, aber wie das zusammenzuführen ist, da gibt es noch keine echte Antwort drauf“, so Bernzen.
Murks oder Meilenstein? Das BTHG auf dem Prüfstand
Scharfe Kritik am Bundesteilhabegesetz sowie an dessen Entstehungsprozess äußerten Dr. Ilja Seifert, Vorsitzender des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation e.V., und Petra Strack, Geschäftsführerin der Deine Assistenzwelt GmbH. „Der sogenannte Beteiligungsprozess von Betroffenen des Gesetzes war eine riesige Geldverschwendung, eine Scheinbeteiligung. Die einzigen, die davon profitiert haben, waren Tourismus-Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen nach Berlin gefahren haben“, so Seifert. „Immer noch müssen Menschen mit Behinderungen in Planungskonferenzen Ziele vereinbaren, die absurd sind. Reicht es nicht, dass ich einfach leben möchte?“
Petra Strack sieht beim BTHG dringenden Nachbesserungsbedarf, beispielsweise beim Thema der persönlichen Assistenz. „Ich erlebe immer wieder bei den Verhandlungen mit Kostenträgern, dass viele derer Mitarbeitenden sehr wenig über das BTHG wissen und aufgrund der hohen Kosten versuchen, die persönliche Assistenz abzublocken.“ Angelika Glöckner, MdB (SPD), hingegen machte deutlich, dass das primäre Ziel des BTHGs war, Leistungen wie aus einer Hand zu erbringen. Dem sei die Branche nun sehr viel nähergekommen. „Die Umsetzungsphase ist ein Prozess, den wir bewusst sehr eng begleiten. Das BTHG ist kein Menschenrechtsgesetz, aber es ist ein wichtiger Schritt zur Teilhabe, die wiederum ein Menschenrecht darstellt. Wir greifen Kritikpunkte auf und steuern dort nach, wo es geht“, so Glöckner.
Die Vermögensgrenze, die nach wie vor die meisten Menschen mit Behinderungen betrifft, war ebenso Streitthema bei der Abschlussdiskussion Reicht BTHG oder brauchen wir ein Menschenrechtsgesetz? Angelika Glöckner stellte heraus, dass dies in der Sozialhilfe verankert sei und deshalb alle Bezieher*innen beträfe. Ilja Seifert machte deutlich, dass es bei einer Behinderung um einen Nachteilsausgleich gehe und deshalb jede Begrenzung des Einkommens ein Verstoß gegen das Menschenrecht sei. Die Kontroverse um eine wirksame Teilhabe wird also auch im nächsten Jahr weitergehen.
Zur Veranstaltung:
Das Zukunftsforum Soziale Arbeit der contec GmbH fand in diesem Jahr zum ersten Mal statt und stellt das Pendant für die soziale Arbeit zum contec forum Pflege und Vernetzung dar, das im Januar 2019 bereits zum 15. Mal Vertreter*innen der Pflegebranche zusammenbrachte, um aktuelle sozialpolitische Herausforderungen praxisnah zu diskutieren. Beim 1. Zukunftsforum Soziale Arbeit am 8. und 9. Mai in der Neuen Mälzerei in Berlin waren rund 100 Teilnehmende aus dem Management der Sozialen Arbeit anwesend.
Text: Marie Kramp© contec GmbH/Marie Kramp
Birgitta Neumann
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