Entwicklung einer ICF-basierten Teilhabeplanung
Menschen mit Behinderungen soll eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden – das ist ein Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention und die Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Doch die Frage, wie der individuelle Bedarf für diese ermittelt wird, wurde mit dem BTHG umstrukturiert. Das BTHG sieht für die Bedarfsermittlung eine Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) vor. Bis 2023 ist die Bedarfsermittlung durch die Leistungsträger rechtsverbindlich auf Basis der ICF durchzuführen. Einrichtungen stehen dadurch vor der Herausforderung, sich mit den unterschiedlichen Instrumenten und mit den Inhalten der ICF auseinanderzusetzen.
Status Quo und Zielsetzung der Teilhabeplanung
Die Teilhabeplanung (ehemals auch: Hilfe- und Förderplanung) in der Eingliederungshilfe ist kein linearer, sondern ein zyklischer Prozess, welcher Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen soll. Im Rahmen der Gesamtplanung werden zunächst mit bzw. durch den Leistungsträger Leitziele mit den Leistungsberechtigten erfasst und der Assistenzbedarf ermittelt. Die konkrete Assistenzplanung durch den Leistungserbringer ist auf Grundlage des Gesamtplans Mittel zur Planung und Reflexion von Unterstützungsmaßnahmen. Sowohl die konkrete Assistenzplanung als auch die Gesamtplanung erfasst zunächst die aktuelle Lebenssituation der Betroffenen und untersucht anschließend regelmäßig die aufgestellten Vereinbarungen auf Fortschritte hin, um (Teil-) Ziele und Assistenzleistungen anzupassen.
In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Instrumenten, die bei der Bedarfsermittlung und der Teilhabeplanung zum Einsatz kommen. Eine landesweite Standardisierung gibt es dabei nicht. Laut BTHG bleiben die Instrumente der Bedarfsermittlung und deren konkrete Ausgestaltung weiterhin in den Händen der Landesregierungen. Die Bedarfsermittlung muss sich an der ICF orientieren und den Fokus auf die Beschreibung von Fähigkeiten und Einschränkungen in neun Lebensbereichen legen, welche der Klassifikation der Aktivitäten und Teilhabe der ICF entsprechen. Das erfordert seitens der Einrichtungen eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Aufbau der ICF und ihrer Items. Bei der Entwicklung einer ICF-basierten Teilhabeplanung ist besonders das ihr zugrundeliegende bio-psycho-soziale Modell zu berücksichtigen.
Das bio-psycho-soziale Modell und die Vorteile der ICF
Bei der Beschreibung einer Behinderung wird mit der ICF Klassifikation der körperliche Gesundheitszustand immer vor dem Hintergrund der spezifischen Lebenssituation eines Menschen betrachtet. Die Verwendung des bio-psycho-sozialen Modells und der ICF Klassifikation hat eine Reihe von Vorteilen bei der Gesamtplanung. So bieten die Komponenten sowie die einzelnen Kapitel der Klassifikation mit ihren Grundbegriffen eine „gemeinsame“ Sprache, die allen Beteiligten die Kommunikation erleichtert. Im Zielsetzungsprozess steht zudem die Teilhabe im Vordergrund: Leistungsberechtigte werden als aktive Partner*innen in die Teilhabeplanung miteinbezogen. Die ICF-basierte Teilhabeplanung hilft bei der Festlegung eines Planungsablaufes, der für alle relevanten Akteure verständlich ist. Mit dem bio-psycho-sozialen Modell ist außerdem ein bedeutender Paradigmenwechsel vollzogen worden, da Behinderung fortan nicht mehr als Merkmal einer Person, sondern als das Ergebnis von negativen Wechselwirkungen zwischen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbezogenen Faktoren anerkannt wird.
Die ICF Klassifikation – Struktur, Aufbau und Kategorien
Die ICF ist Bestandteil der gesundheitsrelevanten Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die ICF kann die aktuelle „Funktionsfähigkeit“ eines jeden Menschen, bzw. die Beeinträchtigung dieser, beschreiben sowie klassifizieren und hat den Anspruch, fachübergreifend anwendbar zu sein. Die Klassifizierung dient dazu, einheitlich und über professionelle sowie kulturelle Grenzen hinweg über chronische Krankheiten oder Einschränkungen, die aus vorangegangenen gesundheitlichen Problemen entstanden sind, wertungsfrei und zielgerichtet zu kommunizieren.
Während die Betrachtung aller definierten Items der ICF keineswegs gewünscht, geschweige denn gefordert wird, so ist die Anwendung der vier Komponenten Grundlage für ein ICF-basiertes Instrument. Denn mit ihnen kehrt die Ermittlung des Hilfebedarfs der reinen Defizitbeschreibung den Rücken und erfasst den Menschen im Kontext seiner individuellen Lebenssituation. Folgende vier Komponenten sollten angewandt werden:
Teil 1:
1. Körperfunktionen und -strukturen: Die beiden Kategorien sind in je acht Kapitel unterteilt. Unter „Körperfunktionen“ werden physiologische und psychologische Funktionen von Körpersystemen wie z.B. die Beweglichkeit in Gelenken oder mentale Funktionen wie die Konzentrationsfähigkeit betrachtet. „Körperstrukturen“ hingegen beschreiben den Zustand der anatomischen Teile des Körpers wie der Organe und Gliedmaßen z. B. infolge eines Gesundheitsproblems.
2. Aktivität und Teilhabe: Die Komponente untersucht zum einen die Fähigkeit, eine Aufgabe oder Handlung in einer bestimmten Situation durchzuführen, z. B. beim Lernen, Kommunizieren oder der Fortbewegung. Zum anderen wird klassifiziert, inwiefern ein Mensch in unterschiedliche Lebenssituationen einbezogen ist und aktive Teilhabe ausüben kann – z. B. in der Arbeitswelt oder im Familienleben. Die neun vom ICF festgelegten Kapitel entsprechen den im BTHG als Untersuchungsbereich definierten Lebensbereichen: Lernen und Wissensanwendung, Allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, Häusliches Leben, Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, Bedeutende Lebensbereiche und Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Teil 2:
3. Umweltfaktoren: Diese Komponente erfasst, wie die Umwelt des Menschen in Bezug auf materielle, soziale oder einstellungsbezogene Faktoren sich negativ oder positiv auf die Teilhabe eines Menschen auswirkt. Die Kapitelzuordnungen dieser Komponente befassen sich sowohl mit den zur Verfügung gestellten Technologien und Diensten als auch mit den Beziehungen sowie Einstellungen von Familie und Gesellschaft gegenüber der Situation des Leistungsberechtigten.
4. Personenbezogene Faktoren: Diese sind aufgrund der kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen den Nationen nicht von der WHO klassifiziert worden. Sie umfassen z. B. Alter, Geschlecht, soziale Herkunft oder auch Charakterzüge einer Person.
Die Beschreibung des Gesundheitszustands eines Menschen anhand der ICF erfolgt mit Kodes, die jeweils spezifische Lebensbereiche sehr detailliert untersuchen. Der Kode setzt sich aus einem Buchstaben für die jeweils betreffende Komponente („b“ für Körperfunktion, „s“ für Körperstrukturen, „d“ für Teilhabe und „e“ für Umweltfaktoren) sowie einer mehrstelligen Nummer für die entsprechenden Kapitel und ihre einzelnen Elemente (Items) zusammen. Diesen qualitativen Teil ergänzt zudem ein quantitativer Teil (mit einer Skala von .0-.9), der definiert, ob eine Schädigung vorhanden und wie stark diese ausgeprägt ist.
Akteure müssen eigene Grundsätze hinterfragen
Durch das BTHG wurden wesentliche Paradigmenwechsel gesetzlich verankert. Dies betrifft insbesondere ein neues Verständnis des Behinderungsbegriffs und damit einhergehend die Notwendigkeit, die Bedarfe eines Menschen in Bezug auf seine Teilhabeziele ganzheitlich zu erfassen. Bei der Frage, wie eine aktive Teilhabe gewährleistet werden kann, ist die Auseinandersetzung aller Akteure mit der ICF Klassifikation und ihren Grundsätzen unverzichtbar.
Organisationen müssen den Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe aktiv begleiten und mitgestalten. Der Paradigmenwechsel fordert seitens der Mitarbeitenden das nötige Wissen sowie eine Sensibilität bezüglich der ICF Klassifikation, deren Auswirkungen auf das eigene Leistungsangebot und einer ICF-basierten Teilhabeplanung. In dem Zusammenhang sind die Führungskräfte gefragt, den in der Organisation notwendigen Kulturwandel zu begleiten.
Text: Cäcilia Jeggle©Svitlana/Adobe Stock
Birgitta Neumann
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