„Eine Wertediffusion gab es zu allen Zeiten“ – Pastor Uwe Mletzko über die Realisierung einer inklusiven Gesellschaft
Pastor Uwe Mletzko ist Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB) und Geschäftsführer der Diakovere gGmbH in Hannover. Am 8. Mai 2019 hat er das Zukunftsforum Soziale Arbeit in Berlin mit dem Vortrag „Inklusive Gesellschaft – Utopie oder Realität? Das Wertefundament der sozialen Arbeit“ eröffnet. Mit ihm sprach Marie Kramp, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei contec.
Herr Mletzko, Inklusion: ist das für Sie Utopie oder Realität? Wie sehen Sie den Status der Inklusion in Deutschland?
Dazu muss man sich vielleicht erst mal anschauen, was denn eine inklusive Gesellschaft bedeutet. Laut Definition hat jeder Mensch in einer inklusiven Gesellschaft – egal welcher Herkunft, welcher Religion oder auch ob mit oder ohne Behinderung – dieselben Rechte und Pflichten, er oder sie möchte Teilhabe und Selbstbestimmung im Alltag leben. Wie schaffen wir es, dies im Kleinen umzusetzen? Wenn ich mir anschaue, wo wir hinsichtlich der Inklusion von Menschen mit Behinderungen noch vor 20, 30 Jahren standen, dann ist in meinen Augen unheimlich viel passiert, was insbesondere durch die Verbände der Selbsthilfe, Trägern der Eingliederungshilfe und Fachverbänden wie dem BeB vorangebracht wurde. Wurden damals noch sogenannte ‚Anstalten‘ auf der grünen Wiese gebaut, leben Menschen mit Behinderungen heute vermehrt mitten in den Quartieren und Stadtteilen, sind Teil des gemeinsamen Lebens. Das ambulante Wohnen wurde stark ausgebaut und da wollen wir weiter ansetzen. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise in Bremen z.T. nur wenige barrierefreie ärztliche Praxen – die freie Arztwahl kann also für Menschen mit einem Rollstuhl dort nicht gelten. Kurz gesagt: Es ist viel geschafft worden, aber der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist nach wie vor lang; ich sehe sie also als eine ‚Real-Utopie‘, eine machbare Leistung.
Bezüglich der Barrierefreiheit machen wir also Fortschritte, aber sind noch lange nicht am Ziel. Nun werden Sie am 8. Mai das Zukunftsforum Soziale Arbeit in Berlin eröffnen. Die Veranstaltung trägt den Titel „Gesellschaft im Wandel – Soziale Arbeit zwischen Wertediffusion und Menschenwürde“. Es geht um das Spannungsfeld von dem gesellschaftlichen Bestreben eines inklusiven Zusammenlebens auf der einen und einer ‚Verrohung‘ bzw. einem Werteverlust des Individuums auf der anderen Seite. Sehen Sie hier eine Kraft, die im schlimmsten Fall dem Bestreben nach Inklusion entgegenwirkt?
Natürlich gehört zur Umsetzung einer inklusiven Gesellschaft wesentlich mehr als barrierefreie Strukturen. Zieht bspw. ein Mensch mit schweren körperlichen Behinderungen in ein Mehrfamilienhaus, lautet die Frage selten: Ist das förderlich für den Menschen und überhaupt leistbar für ihn. Das ist oft gut geregelt und besprochen. Wir sollten uns viel mehr fragen: Ist es für die anderen Wohn-Parteien eine Herausforderung oder nicht? Akzeptieren sie den Bau eines Liftes, damit der neue Nachbar bzw. die neue Nachbarin ins erste Obergeschoss kommt und stört es sie, dass auch nachts Menschen ein- und ausgehen, um die Person umzubetten und andere Fachleistungen zu erbringen? Wie kriegen wir diese Fragen positiv gewendet? Der größte Bedarf an Umdenken besteht bei der Mehrheitsgesellschaft. Und da kommen die Selbst- und Eingliederungshilfe in Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen ins Spiel: Was brauchen Menschen an Informationen und Begleitung, um die Barrieren in ihrem Kopf abzubauen?
Und wie ordnen Sie den scheinbaren oder tatsächlichen Wertewandel in Hinblick auf die Inklusion ein?
Auch ich sehe eine Wertediffusion in unserer Gesellschaft – Rechtsruck, Populismus, Vereinzelung – aber eine Wertediffusion gab es zu allen Zeiten. Die Gesellschaft befindet sich doch in einem stetigen Wandel und immer gibt es Kräfte, die sich gegen die Veränderung nach vorn wehren. Die Herausforderung von heute ist aber in der Tat, dass sich die Betrachtung von Menschen mit Behinderungen in den letzten Jahren in einigen Kreisen radikalisiert hat, ebenso wie auf andere Personengruppen wie gleichgeschlechtliche Paare oder Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist z.B. überhaupt nicht einzusehen, dass die Debatte um Menschen mit Behinderungen mit der Frage nach Inzest verknüpft wird, wie es die AfD in ihrer kleinen Anfrage im März 2018 getan hat. Das hat zurecht zu einem Aufschrei bei den Sozialverbänden und vielen Menschen in der Bevölkerung geführt. Bei jeder Debatte dieser Art müssen wir Flagge zeigen, aufstehen und dagegenhalten, ohne, dass man Vertretern und Vertreterinnen dieser Ansichten damit in die Hände spielt. Das ist ein schmaler Grat. Aber diese Menschen verkörpern nicht die Mehrheit der Gesellschaft.
Wie zeigen wir denn Flagge und was können wir der Wertediffusion entgegenhalten?
Ich erlebe heute schon, dass sich die Lobby für Menschen mit Behinderungen, vor allem aber die Menschen selbst, sehr stark für die Durchsetzung ihrer Wünsche einsetzen und daran mitarbeiten, diese Grundwerte zu erhalten und die Diffusion aufzubrechen. Um einem Missverhältnis und Missverständnis von dem Wert und der Arbeit eines Menschen mit Behinderungen entgegenzuwirken, wie es in rückständigen Ansichten propagiert wird, braucht es noch mehr Partizipation der Menschen mit Behinderungen selbst – nicht umsonst heißt der Leitsatz der UN-BRK „Nicht über uns ohne uns!“. Kommen diese nämlich mehr zu Wort und rücken stärker in den öffentlichen Diskurs, werden auch die kritischen Stimmen immer leiser werden.
Was bedeutet all dies für das operative Geschäft der sozialen Arbeit? Was müssen Träger der Eingliederungshilfe oder auch der Kinder- und Jugendhilfe ihren Mitarbeitenden mit auf den Weg geben?
Was man hier beobachten kann, ist eine dreischrittige Entwicklung: In den 80ern hat man betreut, in den 90ern begleitet, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends assistiert. Jetzt werden die Mitarbeitenden zu etwas wie „Inklusions-Managern und -Managerinnen“ oder „Teilhabebegleitern und -begleiterinnen“. Das Selbst- und Fremdverständnis des Berufes verändert sich einfach und es gilt, die Mitarbeitenden, die noch während einer anderen Phase das Studium oder die Ausbildung absolviert haben und schon lange in dem Beruf arbeiten, dahingehend zu schulen, zu entwickeln und sie bei der Veränderung des Selbstverständnisses zu begleiten. Für all jene, die nun kommen oder die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Fachkräfte werden sollen, müssen wir bereits in den Schulen anfangen, das Verständnis von Behinderungen und den Bedarfen von Menschen mit Einschränkungen neu zu definieren. Inklusive Schulen helfen genau dabei. Sobald die Menschen mit Behinderungen innerhalb der Gesellschaft sichtbar werden, indem sie Mitschüler und -schülerinnen sind, werden wir sie auch als genau das wahrnehmen: Als Mitmenschen, die einfach etwas andere Bedürfnisse haben als wir selbst.
Denken Sie, dass die Wertediffusion den Fachkräftemangel im sozialen Sektor verstärken könnte?
Dass wir einen Fachkräftemangel im sozialen Sektor haben, ist ja hinlänglich bekannt, insbesondere die Pflege durchlebt hier einen starken Wettbewerb um Arbeitskräfte. Das liegt unter anderem sicherlich an der Attraktivität des Berufes, daran müssen wir arbeiten, denn schließlich wird sich die Eingliederungshilfe mit dem BTHG und der Personenzentrierung möglicherweise hin zu mehr Teilzeit für Mitarbeitende verändern, die Arbeitszeiten könnten sich ändern, je nach den individuellen Bedürfnissen der Klienten und Klientinnen. Aber ich sehe sehr stark, dass diejenigen jungen Menschen, die sich für den Beruf der Sozialpädagogik oder die Heilerziehungspflege entscheiden, dies in der Regel mit einer Überzeugung tun, die jedem Wertewandel locker standhalten kann, weil sie sich bewusst entscheiden und ein Zeichen setzen wollen. Nochmal, weil es so wichtig ist: Inklusive Schulen, ggf. verpflichtende Sozialpraktika oder ein FSJ bzw. Bundesfreiwilligendienst sorgen für die Sensibilisierung, aber auch für eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Menschen mit Unterstützungsbedarf und sichern uns aufgrund ihrer gemachten Erfahrungen so ausreichend engagierte Fachkräfte für die Zukunft, die das Konzept der Personenzentrierung mittragen. Die Wertschätzung für die Berufe gilt es dabei allerdings weiter zu pflegen. Sie sind der kostbare Schatz, der Kit unserer Gesellschaft.
Herr Mletzko, vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
Text: Marie KrampBirgitta Neumann
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