Wie gelingt die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft?
Vor wenigen Jahren noch verhielt sich die Sozialwirtschaft eher zurückhaltend, wenn es um Fragen der digitalen Transformation ging. Heute greifen immer mehr soziale Einrichtungen auf moderne digitale Tools zu, was sicherlich auch der Corona-Pandemie und der Suche nach schnellen Lösungen für kontaktlose Kommunikation geschuldet ist. Seitens des Fachverbands FINSOZ e.V. sind diese aus der Not geborenen Übergangslösungen allerdings mit Vorsicht zu genießen, da sie oft nur als Alibi-Lösungen herhalten und den Weg zu einer umfassenden Digitalisierung von Gesamtunternehmen versperren. Dabei besteht gerade dort dringender Handlungsbedarf, findet auch der Digitalverband vediso, der in einer strategisch durchdachten Digitalisierung von Pflege- und Verwaltungsprozessen die Chance auf eine standardisierte Infrastruktur sieht.
☛ Wir werfen einen Blick auf die digitalen Herausforderungen in der Branche und geben Tipps, wie Sie ihnen begegnen können. In Bezug auf die neuen Anforderungen, die mit einer digitalen Ausrichtung der Unternehmensstrukturen unweigerlich einhergehen, scheuen wir auch nicht die Frage: Entstehen da neue Tätigkeitsprofile, in denen sich pflegerische und technische Kompetenzen miteinander verbinden? Welche neuen Kompetenzen sind gefragt?
- 1 – Alibi-Lösungen bringen Digitalisierung ins Stocken
- 2 – Digitalisierung braucht neue Organisationsstrukturen
- 3 – Auf die Bedarfsanalyse folgt die Potenzialanalyse
- 4 – Neue Kompetenzen sind gefragt
- 5 – Mit visionärem Denken die (digitale) Zukunft gestalten
- 6 – Neue Berufsfelder für die digitale Pflege
- 7 – Digitalisierung und Sozialwirtschaft: Quo vadis?
1. Alibi-Lösungen bringen Digitalisierung ins Stocken
Wie in anderen Branchen wurde auch in der Sozialwirtschaft während der Corona-Pandemie vieles in die virtuelle Welt verlegt: Homeoffice in der Verwaltung, Team-Meetings als Web-Konferenzen und Übergaben via Video-Chat. „Zu Beginn der Corona-Pandemie brauchte es Expert*innen, die sich in den verschiedenen Softwares und der nötigen Hardware auskennen, diese möglichst kostengünstig beschaffen und die Mitarbeitenden schulen, sodass sie mobil arbeiten können“, so Simon Kalisch, Projektleiter bei conQuaesso® JOBS. Um die Träger jedoch bei der Digitalisierungs-Transformation zu unterstützen, bräuchten soziale Organisationen laut dem Projektleiter auch Persönlichkeiten, die aus diesen Schritten konkrete Veränderungsbedarfe und Digitalisierungsstrategien ableiten. Eine steigende Nachfrage nach Unterstützung in der Personalberatung im IT-Bereich der Sozialwirtschaft habe er zwar festgestellt, aber er glaubt auch, dass dies zum Teil mit der andauernden Pandemie und der damit notwendig gewordenen Umstellung auf digitales Arbeiten zusammenhängt.
Trotz des angestiegenen Bedarfs an qualifizierten Persönlichkeiten, die die beiden Welten der Sozialwirtschaft und der Informationstechnologie übereinbringen können, konnte Prof. Wolff, Vorstand beim FINSOZ e.V., Hochschulprofessor an der Hochschule Hof und Gesellschafter bei ConsultSocial, einen wirklichen Digitalisierungsschub in der Sozialwirtschaft bisher nicht feststellen. Ernsthafte Digitalisierungsbestrebungen sieht er durch die oberflächliche, reaktive Beschäftigung einzig mit Kommunikationsplattformen eher blockiert. „Wir waren vor der Pandemie zum Teil viel weiter, haben uns mit der Digitalisierung ganzer Geschäftsprozesse in sozialen Unternehmen befasst und jetzt scheinen manche zu glauben, mit der Einführung von Microsoft Teams wäre alles getan. Das ist auch ein Aspekt von Digitalisierung, aber keiner, der unsere Kernprozesse voranbringt. Bei vielen zentralen Themen kommen wir zurzeit nicht voran, ich erlebe eine Starre“, so Prof. Wolff. In seiner Beratertätigkeit stellt er immer wieder fest, dass in den sozialen Organisationen häufig noch das Verständnis dafür fehlt, was Digitalisierung eigentlich bedeutet und was dafür nötig ist zu investieren.
2. Digitalisierung braucht neue Organisationsstrukturen
Um die Potenziale der Digitalisierung nachhaltig freizusetzen, braucht es nach Meinung des IT-Experten Wolff strategische Weichenstellungen, und das zeitnah. In vielen sozialen Organisationen scheitere der Versuch einer digitalen Transformation schon an der nicht existenten flächendeckenden und funktionierenden Infrastruktur. Von zentraler Bedeutung ist vor diesem Hintergrund beispielsweise ein zügiger Breitbandausbau. „Um die Organisationen auf digital umzustellen, muss die Digitalisierung strategisch und ganzheitlich angegangen werden. Was viele so noch nicht sehen, ist, dass sich die Organisation auch verändern muss“, so Dietmar Wolff. „Für bessere Strukturen in der gesamten Branche müssen wir außerdem die Kräfte jetzt klar bündeln und bestimmte Standards schaffen. Das fängt an bei der Kommunikation über die Sektorengrenzen hinaus, bei der Pflegedokumentation oder bei den Schnittstellen zwischen smarter und mobiler Technologie und den Softwareanwendungen der Einrichtungen. Aber da muss mehr aus der Politik kommen, da braucht es jetzt ganz klar gebündelte Initiativen unsererseits, um eine durchdachte Digitalisierung von Strukturen und Prozessen voranzutreiben.“
3. Auf die Bedarfsanalyse folgt die Potenzialanalyse
Um sich einer nachhaltigen Digitalisierung im eigenen Unternehmen zu widmen, macht es am Anfang Sinn, sich gemeinsam hinzusetzen und Schwerpunkte zu identifizieren: Wie wollen wir uns für die nächsten Jahre aufstellen? Welche Ideen und Visionen haben wir? Wie können wir das in Projekte und Maßnahmen umsetzen? Und wer setzt das dann um? Jede Organisation ist unterschiedlich und genauso individuell sind die Bedarfe in der Digitalisierung. Diese erst einmal zu identifizieren und dann darauf basierend die notwendigen Schritte einzuleiten, das rät Prof. Wolff. Ob es dann eine starke IT-Abteilung mit vielen Mitarbeitenden und einem bunten Qualifikationsmix ist oder ob eine eigene Stabsstelle oder gar Stabsabteilung Digitalisierung geschaffen wird, muss im Einzelfall geschaut werden“, so der IT-Experte. Fakt ist: „Digitalisierung wird nicht nebenbei gemacht. Das eine bedeutet, den Laden am Laufen zu halten, das andere bedeutet, auch mal Neues zu wagen und gegebenenfalls Fehler zu machen.“
Nach einer Bedarfsanalyse muss das Unternehmen sich dann entscheiden, ob es neu einstellen möchte bzw. kann oder ob es mit dem vorhandenen Personal im Unternehmen die gewünschten Digitalisierungsmaßnahmen angegangen werden. Dietmar Wolff empfiehlt hier eine Potenzialanalyse. „Ich erlebe immer häufiger, dass junge, ambitionierte und gut ausgebildete IT’ler in der Sozialwirtschaft durchaus das Potenzial haben, so entwickelt zu werden, dass sie die digitale Transformation eines Trägers begleiten und verantworten können.“ Dies bestätigt Simon Kalisch: Um seine Netzwerke entsprechend zu aktivieren, klärt er aber vorab immer erst das Anforderungsprofil mit den Kunden ab, um genau zu wissen, nach wem gesucht wird. „Bei der Suche ist es nicht unwichtig zu fragen, ob es mit einer reinen Stellenbesetzung getan ist oder ob in der Anfrage womöglich größere Organisationsentwicklungspotenziale stecken“, weiß der Projektleiter zu berichten. „Unter Umständen sind eine Restrukturierung der Abteilung und ein internes ☛ Talentmanagement der richtige Weg. Ist diese Option nicht gegeben und man möchte neu einstellen, ist der richtige Blickwinkel entscheidend“, so Kalisch.
4. Neue Kompetenzen sind gefragt
Seit einiger Zeit erhält Simon Kalisch immer mehr Anfragen von Kund*innen für die Besetzung von IT-Positionen für soziale Träger, oft in leitender Funktion. Der vorherrschende Tenor: Es soll ein Leiter oder eine Leiterin für die IT her, der bzw. die sowohl das Team leitet, den Support koordiniert und sicherstellt und gleichzeitig das Unternehmen durch die digitale Transformation führt. „Wir begrüßen die Trendwende in der Branche, nicht mehr ausschließlich auf klassischen IT-Support zu schauen. Die Digitalisierung eines Unternehmens ist ein langer, strategischer Prozess, für den es zeitliche und finanzielle Ressourcen braucht, aber eben auch und vor allem sehr spezielle Kompetenzen und Qualifikationen, die zum Teil weniger in der klassischen IT liegen als im Management und der Projektleitung“, so der Projektleiter. Gesucht werden demnach Persönlichkeiten, die es am Markt noch nicht so häufig gibt.
Auch Anika Selle, Leiterin Recruiting bei conQuaesso® JOBS, weiß, dass es als IT’ler in der Sozialwirtschaft oftmals mehr braucht als eine gute Kenntnis der Hard- und Software. Wichtig sei eine genaue Analyse der Kompetenzen, die der Kunde für die Umsetzung seiner Ziele benötigt. „Deshalb müssen wir auch wissen, ob wirklich eine Leitung IT oder ob nicht dringender ein*e Projektmanager*in IT gesucht wird. Das sind unterschiedliche Anforderungsprofile“, so Selle. „Wenn ich jemanden finden möchte, der einen Transformationsprozess begleitet, dann stehen in dem Anforderungsprofil Kompetenzen wie Kundenorientierung, Projektmanagement, Prozessmanagement, Personalführung und viele andere Skills noch vor der klassischen Technik-Affinität.“ Diese sei basale Anforderung, aber eben nicht immer alles.
5. Mit visionärem Denken die (digitale) Zukunft gestalten
Ähnlich erlebt dies Volker Gudermann, der als IT-Projektleiter den Weg in die Sozialwirtschaft gefunden hat und jetzt als Projektleiter für IT- und Innovationsprojekte bei einem gemeinnützigen Unternehmensverbund im Sozial- und Gesundheitswesen angestellt ist. Dort hat er gemeinsam mit den Geschäftsführer*innen der Unternehmensgruppe eine Digitalstrategie erarbeitet, die im Rahmen von strategischen Projekten umgesetzt wird. Ein Schlüsselprojekt im Rahmen der Digitalstrategie ist die Analyse der Kernprozesse der Unternehmensgruppe und die Entwicklung einer passgenauen IT-Unterstützung dieser Prozesse. Ziel dabei ist es, die verzweigte IT-Landschaft mit unterschiedlichsten Modernisierungsgraden in der Infrastruktur und den Fachanwendungen in ein schlankes, effektives System zu verwandeln. In seiner Funktion als Projektleiter gehe es vor allem darum, die einzelnen Unternehmensbereiche zusammenzubringen, um die geplanten Lösungen möglichst bereichsübergreifend einzusetzen. „Mit der Unternehmensgruppe denke ich vor allem über mittelfristige Maßnahmen und Strategien nach, wir entwickeln Roadmaps und planen, was wir wie, wann und mit welchen Ressourcen umsetzen wollen. Innerhalb der IT geht es dann darum zu schauen, wie diese Wünsche und Pläne mit der Technik und den Kapazitäten des IT-Personals zu vereinbaren sind“, so Gudermann.
Für die Sozialbranche allgemein brauche es an der Schnittstelle zur IT laut Gudermann mehr Kompetenzen, die in Richtung konzeptionelles und visionäres Denken gehen. „Wir brauchen Leute, die in die Zukunft denken und Möglichkeiten der IT-Nutzung ausloten, die wir heute noch nicht sehen“, so der IT-Experte. Das Fach-Know-how aus der Sozialwirtschaft ist für ihn ebenfalls wichtig, hier kann er aber bei Bedarf die entsprechenden Expert*innen aus den Fachabteilungen heranziehen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist aus Sicht von Volker Gudermann die Aus- und Weiterbildung des gesamten Fachpersonals im Bereich Digitalisierung. Dies mache auch einen Schwerpunkt in der erarbeiteten Digitalstrategie seiner Unternehmensgruppe aus. Durch den zunehmenden Einsatz von Cloud-Lösungen ist innerhalb der eigenen Organisation außerdem der Bedarf beim Thema Datenschutz enorm gewachsen, dies betrifft aber seiner Meinung nach die gesamte Sozialbranche.
6. Neue Berufsbilder für die digitale Pflege
Dass eine strategisch durchdachte Digitalisierung eine Haltungsänderung auch bezüglich der Ausbildungscurricula von Pflegeberufen erfordere und dabei insbesondere ein interdisziplinärer Ansatz zielführend sein kann, hat u. a. der Digitalverband FINSOZ e.V. erkannt: In einem Positionspapier entwirft er gemeinsam mit anderen Fachverbänden der Sozialwirtschaft neue Berufsbilder, die pflegerische und IT-Kompetenzen zusammendenken. Ein dort erwähnter „Pflege-Digital-Begleiter“ würde in pflegerischen Versorgungsbereichen unterstützen, aber auch eine beratende und koordinierende Funktion übernehmen. Als Vermittler zwischen pflegerischer und Digitalisierungs-/IT-Kompetenz könnten sie zu einer Verbesserung von Prozessen und somit für eine bessere Versorgung der Pflegebedürftigen sorgen.
Auch mit der Etablierung des Bachelorstudiengangs „Innovative Gesundheitsversorgung“ und seit kurzem des Masterstudiengangs „Digitale Transformation“ an der Hochschule Hof geht es darum, ein gewisses Mindset zu entwickeln, welches die Perspektiven aller beteiligten Akteure und Schnittstellen aus der Branche mit einbezieht, um zwischen ihnen zu vermitteln. Ziel dieser Studiengänge sei es, „Brückenbauer auszubilden“, wie Prof. Wolff es beschreibt. Diese neuen Tätigkeitsprofile stellen die klassischen Berufszweige infrage und suchen nach Lösungen, die Bedürfnisse der Gesundheits- und Sozialbranche mit Digitalisierungsbestrebungen sowie betrieblichen Interessen einer Organisation zu verbinden. „Die Studierenden erhalten von uns eine IT-Grundausbildung, lernen das Sozialgesetzbuch und das Finanzierungssystem der Branche kennen, erfahren mehr zu Themen wie Unternehmensführung und Projektmanagement und lernen verschiedenste Methodiken kennen, mit denen Entscheidungen schnell herbeiführbar sind. Denn das ist immer ein großes Thema in der Sozialwirtschaft: Entscheidungen treffen.“, so Prof. Wolff. Insgesamt qualifizieren sich die technik-affinen Studierende dadurch, im Anschluss an das Studium die Besonderheiten der Sozialwirtschaft zu kennen und zu verstehen.
7. Digitalisierung und Sozialwirtschaft: Quo vadis?
Die Beobachtungen unserer Expert*innen zeigen: Die Sozialwirtschaft hat den Handlungsbedarf zwar erkannt, aber scheut sich hier und da noch, die Umsetzung der Digitalisierung strategisch anzugehen. Da kommt eine „Alibi-Digitalisierung“, wie Corona sie zu begünstigen scheint, gerade recht. Doch die Anforderungen an soziale Organisationen steigen und auch der Ruf der Digitalverbände nach Vereinheitlichung von Standards wird immer lauter. Die Digitalisierung nicht als Bürde zu sehen, die man lieber aufschiebt, sondern sie als Möglichkeit zu verstehen, gewisse Prozesse rascher, effizienter und ressourcenschonender umzusetzen, könnte viele Probleme lösen. Gerade mit Blick auf die Umstellung der personenzentrierten Leistungserbringung, die das BTHG vorsieht und die nun nach und nach umgesetzt wird, würde eine Digitalisierungsstrategie große Abhilfe schaffen. Dietmar Wolff hat hier aber Verständnis: „Die beteiligten Akteure des Sozialrechtlichen Dreiecks sind so sehr damit beschäftigt, die Verwaltung umzustellen, dass es im Moment wenig Platz für anderes gibt, wenn es nicht zwingend notwendig ist.“ Ähnlich geht es der freien Jugendhilfe, die seit dem Frühjahr mit der SGB VIII-Reform beschäftigt ist. „Die Pflege allerdings hat ihre größten Reformen der letzten Jahre durch, hier könnte man sich schon etwas stärker der strategischen Digitalisierung widmen“, meint Dietmar Wolff.
Text: Marie Kramp/Sarah RütershoffBild: © rawpixel.com/Adobe.Stock
Simon Kalisch
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