„Die goldenen Zwanziger der Pflege“ – Branche steht vor Umbruch
16. contec forum in Berlin erfolgreich zu Ende gegangen
Fasst man die Kernergebnisse des 16. contec forums Pflege und Vernetzung zusammen, scheint der Pflege ein Jahrzehnt der Veränderungen bevorzustehen. Detlef Friedrich, Geschäftsführer der contec GmbH, rief in seiner Eröffnung der Veranstaltung in der Kulturbrauerei Berlin, bei der rund 200 Entscheider*innen aus Politik und Pflegebranche am 15. und 16. Januar zusammenkamen, das „Zeitalter des Empowerments“ in der Pflege aus. Themen wie das einheitliche Personalbemessungsverfahren, eine notwendige Neustrukturierung der Pflegeversicherung oder die Einbindung internationaler Pflegefachkräfte fanden überraschend viel Konsens unter den Anwesenden. Anders sieht es bei dem Streitthema Zeitarbeit in der Pflege aus.
„Integration kann nicht verordnet werden“: PStS Sabine Weiss stellt Pläne der Bundesregierung vor
In ihrer politischen Eröffnung des 16. contec forums, das in diesem Jahr unter dem Titel „Pflege unter Denkmalschutz: KAP, moderne Geschäftsmodelle und Personalkonzepte im Fokus der Branche“ stand, machte die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesgesundheitsministers deutlich, dass die Bundesregierung auch in der zweiten Hälfte der aktuellen Legislatur weitreichende Maßnahmen für die Bewältigung der Probleme in der Pflegebranche anstoßen wird. So soll noch in diesem Jahr eine Roadmap für die Einführung eines bundeseinheitlichen Personalbemessungsverfahrens erarbeitet werden, um die Personalausstattung der Pflegeeinrichtungen schnellstmöglich zu verbessern. Der Fokus soll dabei auf einem guten und einrichtungsindividuellen Personalmix liegen. „Dafür sind wir zwingend auch auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen“, betont Sabine Weiss. „Aber Integration kann man nicht gesetzlich verordnen, deshalb sind hier alle Player gemeinsam gefragt.“ Weiss hob deshalb die Bedeutung der Deutschen Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa) und anderer Projekte hervor, die den bürokratischen Aufwand für internationale Fachkräfte und Einrichtungen mindern sollen. Weiterhin liege der Fokus der Bundesregierung darauf, die Ergebnisse der Konzertierten Aktion Pflege in die Umsetzung zu bringen und diese eng zu begleiten. „Und wenn wir sehen, dass zu wenig passiert, werden wir nachsteuern“, versprach die Staatssekretärin.
Hoffnungsträger Personalbemessungsverfahren
Dass die Pflegebranche in Zukunft sehr viel mehr Personal benötigen wird, wurde bei der Vorstellung des RWI Pflegeheim Rating Reports 2020 durch Dr. Ingo Kolodziej eindrücklich deutlich. Bis 2040 rechnen die Autor*innen der Studie mit ungefähr fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland und damit mit einer Anzahl von ca. 141.000 bis 229.000 zusätzlich benötigten Pflegefachkräften. Hierbei kommt dem neuen Personalbemessungsverfahren eine wichtige Rolle zu. Thomas Kalwitzki aus dem Team um Prof. Rothgang stellte die Bedeutung dieses neuen, einheitlichen Personalbemessungsverfahrens deutlich heraus. „Ein solches Verfahren ist der erste Schritt, die Pflege nicht länger unter Denkmalschutz zu stellen. Aber um dieses auch tragfähig umsetzen zu können, wird man das Fundament der Pflegeversicherung neu gießen müssen“, so Kalwitzki, kurz bevor er den aktuellen Stand des Personalbemessungsverfahrens vorstellte. Kalwitzki machte außerdem deutlich, dass es in Zukunft vor allem Pflegehilfskräfte braucht, um den Personalmix in den Einrichtungen bedarfsorientiert zu gestalten. Um diesen entsprechend der Bewohnerschaft individuell berechnen zu können, wird das neue Verfahren eingesetzt werden, das aktuell noch in der konzeptionellen Erprobung durch das Team um Prof. Heinz Rothgang steckt. Dass alle Beteiligten in dieses Vorhaben sehr große Hoffnungen legen, wurde bei den Beiträgen des 16. contec forums sehr deutlich.
„Where is the problem?“ – Neustrukturierung der Pflegeversicherung
Ein weiteres Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle Programmpunkte zog, war die Finanzierung der Pflege. Mehr Personal und die Umsetzung der KAP-Ergebnisse machen die Pflege teurer. „Wenn die Eigenanteile für Pflegebedürftige nicht explodieren sollen, muss der Gesetzgeber was tun“, sagte Sabine Weiss. Durch Bernhard Schneider, Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform, wurden ein weiteres Rothgang-Gutachten bzw. die sieben Reformbausteine für eine Neustrukturierung der Pflegeversicherung vorgestellt und im Anschluss diskutiert. Die eigentliche Innovation dieses Modells sieht Schneider aber nicht in dem vorgeschlagenen Sockel-Spitze-Tausch, sondern in der geplanten, völligen Abschaffung der Sektorengrenzen von ambulant und stationär. „Um den Beitragssatz der Pflegeversicherung bis 2045 bei 4,4 Prozent festzuschreiben, braucht es nicht viel: Die Pflegeversicherung muss zu einer Bürgerversicherung mit einem Steuerzuschuss von 10 Prozent und einem fixen Eigenanteil von 470 Euro monatlich werden: Where is the problem? Wo ist da das Problem?“, fragte Schneider in die Runde. Stellvertretend für die Kommunen betonte Friederike Scholz vom Deutschen Städtetag, dass bei explodierenden Eigenanteilen die Kommunen ihrer Handlungsfähigkeit beraubt würden. „Die Kosten der Pflegebedürftigen und der Hilfe zur Pflege sind zu begrenzen. Ein Sockel-Spitze-Tausch ist eine gute Möglichkeit dafür.“
„KAP erfordert Mut“: Umsetzungsvorschläge bleiben vage
Dr. Silke Heinemann gab am Beispiel Hamburg einen Einblick in die Umsetzung der KAP-Ergebnisse von Seiten der Länder. „Schon der Prozess der Konzertierten Aktion an sich erforderte Mut, jetzt brauchen wir noch mehr Mut für die Schaffung der Rahmenbedingungen, für mehr Ausbildung und für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege“, betonte sie bei ihrem Impuls. Die konkreten Umsetzungsvorschläge, wie die gemeinsame Arbeit von Land, Kommunen und Einrichtungen aber in Zukunft aussehen muss, um die ambitionierten Ergebnisse spürbar zu machen, blieben bei der anschließenden Diskussion vage. Das Podium mit privaten und freigemeinnützigen Leistungserbringern, Gewerkschaft, Landespolitik und Kommunen machte aber eines deutlich: Die Umsetzung erfordert Ressourcen, die aktuell noch nicht vorhanden sind. Einrichtungen fühlen sich noch allein gelassen und oftmals steckt der Teufel im Detail, wenn es beispielsweise um die Einbindung internationaler Fachkräfte und das Potenzial des Binnenmarktes geht. „Aber Eitelkeiten fördern keinen Fortschritt“, mahnte Detlef Friedrich.
Wunschdienstplan vs. Wunschzeiten: „Kunden bestimmen den Einsatz der Zeitarbeiter*innen“
Leih- bzw. Zeitarbeit in der Pflege ist kein Minderheitenthema. Herbert Mauel vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa) hat die Ergebnisse einer Umfrage zur Zeitarbeit bei den Mitgliedsunternehmen des bpa vorgestellt, nach der fast die Hälfte der befragten Unternehmen angaben, Zeitarbeiter*innen zu beschäftigen. „Die Wunscharbeitszeit, die Leiharbeitsfirmen ihren Mitarbeitenden versprechen, geht immer zu Lasten Dritter, nämlich der Stammbelegschaft. Irgendwer muss ja die Nacht- und Wochenenddienste machen“, beklagt Herbert Mauel die Wunschdienstpläne. Dennis Greenfield von der AÜG Netzwerk Human Resources GmbH erläuterte, dass natürlich der Kunde die Zeiten vorgebe, denn könne eine Arbeitskraft nicht vermittelt werden, koste sie das Unternehmen ebenfalls viel Geld. Zudem fügte er hinzu, dass in Anbetracht einer sechsstelligen Zahl von Pflegekräften, die ihren angestammten Arbeitsmarkt aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen verlassen hätten und nun anderen Tätigkeiten nachgingen, die Zeitarbeit mit ihren gut 30.000 Beschäftigten immerhin einen Teil der Pflegekräfte für die Pflege erhalten könne. Einigkeit bestand darüber, dass ohne Zeitarbeit nur sehr schwer Spitzen wie beispielsweise während einer Grippewelle aufgefangen werden könnten. „Aber wenn man auf Zeitarbeit zurückgreifen muss, bloß um Quoten zu erfüllen, dann führt das zu einer Entsolidarisierung in den Einrichtungen. Mit dem Versprechen der Wunscharbeitszeit werden manchmal sogar Mitarbeitende der Stammbelegschaft zur Zeitarbeit gelockt“, so Herbert Mauel.
Gesamtgesellschaftlicher Kraftakt
„Das Bündnis der drei Ministerien im Rahmen der KAP zeigt, dass Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist“, so Detlef Friedrich. „Um den Herausforderungen der Zukunft und der Gegenwart gewachsen zu sein, muss die Pflege unabhängig vom Wohnort finanziert und damit ambulante und stationäre Sektorengrenzen aufgehoben werden – ‚Keep it simple‘ muss der Leitfaden sein. Wir brauchen eine mutige und deutliche Vereinfachung der Finanzierungsstrukturen. Die Pflege werden wir nur erfolgreich weiterentwickeln, wenn Pflegende mehr Gestaltungsspielräume haben und durch ein Empowerment und Integration neuer Technologien gestärkt werden.“ Für Friedrich stehen Prävention und Pflegevermeidung auf allen Ebenen im Vordergrund der Agenda für die Zwanziger Jahre. Er kündigte bereits an, dass es beim 17. contec forum 2021 noch stärker um das Thema der Digitalisierung gehen wird.
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Text: Marie Kramp© contec
Detlef Friedrich
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