Dialogprozess SGB VIII: Was erwarten freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe?

SGB VIII-Reform
Mittwoch, 10 April 2019 15:58

Eine Reform des Kinder- und Jugendhilfe Gesetzes ist längst überfällig – das SGB IX hat es vorgemacht, das SGB VIII zieht nach. Dass dies in Form eines Dialogprozesses erarbeitet werden soll, der allen Akteur/innen die Möglichkeit der Partizipation bietet, ist nur konsequent, bedenkt man das Ziel der SGB VIII-Reform: Mehr Partizipation, mehr Inklusion auf Klientel-Ebene. „In der Theorie ein Gedicht, aber in der Umsetzung könnte es genau ins Gegenteil umschlagen“, befürchtet Erik Bedarf von der pädagogischen Beratungsstelle des Vereins für sozialtherapeutische Einrichtungen NRW e.V. (VSE). Ein Gespräch über den richtigen Grundgedanken, eine mögliche Psychiatrisierung der Jugendhilfe und die Notwendigkeit der engeren Zusammenarbeit der Systeme.

Herr Bedarf, eine Gesetzesreform im Rahmen eines Dialogprozesses – klingt wie ein Traum. Was sagen Sie zu den Plänen von Ministerin Giffey?

Grundsätzlich ist es sehr zu begrüßen, dass diese Reform, die ja anfangs ohne größere Beteiligung der freien Wohlfahrt gestartet ist, nun in diesen Dialogprozess gemündet ist. Auch fachpolitisch geht vieles in die richtige Richtung: Die Strukturmaxime der Beteiligung von Adressaten und Adressatinnen, die Stärkung partizipativer Prozesse bei Eltern und Kindern, der Ausbau des eigenständigen Beratungsrechts für Kinder und Jugendliche sowie die Stärkung der Ombudsstellen als Beschwerdemöglichkeit sind wichtige Schritte – bisher sehen sich Kinder, Jugendliche und ihre Eltern oft mit einem machtvollen System konfrontiert und fühlen sich wenig handlungsfähig.

Würden Sie ein inklusives SGB VIII begrüßen? Würde das nicht zu großen Herausforderungen in der Leistungserbringung führen?

Die viel beschworene „große Lösung“ ist wohl aufgrund der schwierigen Operationalisierung erst einmal vom Tisch. Dennoch, die Schnittstellen der Branchen werden mehr und das spüren wir bereits jetzt in der Praxis. Ich würde ein inklusives SGB VIII begrüßen, wenn das Handlungsleitende die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen und derer Eltern ist, wenn die Orientierung am einzelnen Menschen im Zentrum steht. Wenn die betroffenen Jugendlichen am Ende die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, welche Hilfe sie benötigen, um die nächsten Schritte gehen zu können.

Also so ähnlich, wie es das BTHG nun für Menschen mit Behinderungen vorsieht? Frei wählen zu können, welche Leistung sie von welchem Anbieter in Anspruch nehmen möchten?

Der Idealfall wäre – aber das ist leider noch Utopie – dass die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sich so aufstellen, dass sie selbst inklusiv arbeiten können. Dass die Leistungsberechtigten ein hohes Mitspracherecht haben, wie sie leben und mit welchen Menschen sie arbeiten möchten, sich aber nicht zwingend zwischen zwei Systemen entscheiden müssen. Das erfordert natürlich ein hohes Maß an Fachlichkeit innerhalb einer Einrichtung bzw. – eher noch wichtiger – die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Hilfssystemen.

Was würde das für die Mitarbeitenden bzw. schon für die Ausbildung in der Sozialarbeit bedeuten? Verändert das nicht das Profil des Jobs?

Auf jeden Fall, hier müssten verschiedene Dinge bereits im Studium passieren, die aber bitte keinen Doktor Allwissend produzieren, das wäre eine absolute Überforderung. Aber sowohl den Pädagogen und Pädagoginnen als auch den Menschen, die eher im psychiatrischen Bereich tätig sind, muss man beibringen, dass eine andere Fallsicht mit einer anderen Fachlichkeit eine wertvolle Bereicherung ist. Gleichzeitig glaube ich keine Sekunde an eine Einrichtung, die alles kann und ich finde auch nicht, dass das die Richtung ist, in die wir denken sollten.

Das heißt, die Schnittstellen zu anderen Systemen wie der Psychiatrie oder der Eingliederungshilfe sollten einfach fruchtbarer gemacht werden?

Man hört ja oft diese Überschrift „Weg von den Schnittstellen, hin zur Gemeinsamkeit“, da ist was Wahres dran. Das funktioniert immer örtlich dort besonders gut, wo die Systeme sich kennengelernt haben. Wenn man um die Grenzen des jeweils anderen Systems weiß, aber eben auch um die Möglichkeiten, die eine Zusammenarbeit bietet, dann lassen sich gemeinsame Settings erarbeiten. Wir erleben aktuell ein sehr positives Beispiel mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marl. Vertrauen wächst über Einzelfälle, nicht über Konzepte, die man sich hin und her schiebt. Und plötzlich merkt man, dass man auf der Basis eines erkennbar ähnlichen Menschenbildes arbeitet, aber mit völlig unterschiedlicher Fachlichkeit und institutionellen Möglichkeiten. Und es entsteht ein sich gegenseitiges Unterstützen. Wir merken in der Praxis, dass wir jetzt und in Zukunft mehr dazu gezwungen werden, miteinander zu reden, das ist sicherlich der richtige Weg, aber es fehlt noch an Umsetzung in der Praxis. Wir müssen lernen, uns reinzureden, ohne den anderen die Kompetenz abzusprechen. Heißt: Gemeinsam dranbleiben im Einzelfall, nicht aus Überforderungsängsten verschieben, entlassen, abgeben.

Welche Befürchtungen haben Sie hinsichtlich der Schnittstellen zur Eingliederungshilfe, wenn wir von einer inklusiven Lösung sprechen?

Bislang diente § 35a SGB VIII in unserer Praxis der Betreuung Jugendlicher und junger Erwachsener – man muss es ehrlicher Weise so sagen – als eine Art Notvehikel für eine Verlängerung der Jugendhilfe nach §41. Dieser ist nämlich mancherorts ziemlich restriktiv angelegt und durch das Hinzuziehen eines Arztes bei über 18-Jährigen bot die Diagnose einer drohenden oder existierenden seelischen Behinderung die Möglichkeit eines ruhigen Fallverlaufes und einer weiterführenden Hilfe. Grundsätzlich, und das ist Konsens bei Kinder- und Jugendhilfe sowie Jugendpsychiatrie, ist die Vermeidung von Diagnosen im Kindesalter die Handlungsmaxime – es gibt so vieles, das sich auswächst, aber eine Diagnose bleibt. Nun, da der §35a ein anderes Gewicht bekommt, der Paradigmenwechsel mit Teilhabeermöglichung und Diagnostizierung nach ICF besondere Lizenzen der Einrichtungen aus Kinder- und Jugendhilfe für den Paragraphen erfordert, befürchte ich eine Psychiatrisierung der Jugendhilfe. Das Jugendamt will jetzt genau wissen, wie Einrichtungen nach 35a arbeiten, wie sie dafür qualifiziert sind und welche Störungsbilder sie abdecken. Aus Kostenträgersicht und aus einer übergeordneten Qualitätsperspektive ist das verständlich. Aber letztendlich werden dann nur jene Menschen Anspruch auf bestimmte pädagogische Leistungen haben, die zum Arzt gehen und sich eine Krankheit oder eine Behinderung bescheinigen lassen und das allein stellt für viele Jugendliche und junge Erwachsene eine Hürde dar. Das, was im Moment gut ist, dass individuell ausgewählte Einrichtungen mit individuellen pädagogischen Konzepten gut auf die Bedarfe und Bedürfnisse der einzelnen eingehen können, droht wegzufallen. Und das geht an der eigentlichen Zielsetzung vorbei. Damit werden wieder Defizite, Diagnosen, Krankheiten in den Fokus gerückt, was ja laut Lyrik der inklusiven Lösung genau verhindert werden soll.

Der Grundgedanke ist ja: Weg von der Defizitorientierung, hin zur Partizipation – den Menschen als selbstständigen zu sehen, der Entscheidungen treffen kann. Wie kann sich das in der Kinder- und Jugendhilfe gestalten?

Man muss immer unterscheiden zwischen der Partizipation auf Fallebene und jener auf institutioneller Ebene, also wie kann die Klientel die Angebote selbst mitgestalten. Erstere ist das absolute A&O, da führt kein Weg dran vorbei, aber sie ist so wichtig wie schwierig. Wir schulen unsere Mitarbeitenden gezielt für Hilfeplangespräche zusammen mit dem Jugendamt und anderen Trägern. Wie finde ich heraus, was jemand möchte? Wie formuliere ich Ziele so, dass sie im Sinne der Person sind? Arbeite ich auf Ziele hin, die nicht die des jungen Menschen sind, dann werde ich sie nicht erreichen. Wir bekommen hier sehr positive Rückmeldungen für unseren klaren Ansatz, weil die Jugendlichen sich ernst genommen fühlen.

Auch auf die Mitwirkung auf institutioneller Ebene legen wir beim VSE besonderen Wert, aber das ist nicht einfach, insbesondere für die Mitarbeitenden. Denn die sehen sich im Rahmen von Feedback natürlich auch kritisiert und zu Entwicklungen aufgefordert. Und ganz nach dem Motto: Partizipation macht nicht zwangsläufig Spaß, sie macht Arbeit, müssen wir zum Teil die Jugendlichen mit Pizza zu den Feedback-Veranstaltungen locken, damit sie ihre Chance der Mitgestaltung wahrnehmen. Bei der institutionellen Partizipation bewegen wir uns immer in einem Spannungsfeld von der Scheinbeteiligung bis zur Selbstverwaltung, wir müssen wissen, wie ernsthaft wir unsere Einrichtungen von den Jugendlichen mitgestalten lassen wollen, damit wir keine Pseudoeinladungen aussprechen und Selbstwirksamkeitserlebnisse auch auf dieser Ebene torpedieren.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bedarf!

Erik Bedarf von der pädagogischen Beratungsstelle des VSE NRW e.V. wird beim Zukunftsforum Soziale Arbeit am 8. Mai einen Workshop zum Thema Hierarchien und Mitarbeiterzufriedenheit leiten. In seinem Workshop wird er beleuchten, was Selbstverwaltung und Basisdemokratie für Vor-, aber auch Nachteile mit sich bringen. Insbesondere vor dem Hintergrund der mit dem BTHG geforderten Personenzentrierung und dem höheren Mitbestimmungsrecht der Leistungsberechtigten werden eine Abflachung von Hierarchien und eine Befähigung der Mitarbeitenden zur eigenständigen Entscheidungsfindung im Sinne der Leistungsberechtigten notwendig.

Text: Marie Kramp ©Denis Kuvaev

Birgitta Neumann

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