Demenzvorhersage – Neue Versorgungsansätze gestalten
Das Thema Demenz rückt derzeit u. a. aufgrund von demografischen und medizinischen Entwicklungen immer stärker in den Fokus. So ist es mittlerweile möglich, anhand von Blut- oder Gentests das Risiko einer Demenzerkrankung zu bestimmen. Aber was bedeutet das für den Umgang mit der Erkrankung? Braucht es neue Beratungs- und Versorgungsmodelle und wie können diese aussehen? IEGUS erforscht diese Fragestellungen mit Blick auf die Gesundheits- und Sozialwirtschaft.
Ende letzten Jahres machte der Schauspieler Chris Hemsworth in einer Fernsehsendung einen Gentest: Im Ergebnis wurde ihm ein erhöhtes Alzheimer Risiko attestiert. Der Schauspieler nahm diese Erkenntnis zum Anlass, eine Karriere-Pause einzulegen und das Thema Demenz und Prävention in die Öffentlichkeit zu tragen.(1) Das Beispiel zeigt ein Dilemma der Vorhersage von Krankheiten anhand von Gen- oder Bluttests auf: Was bedeutet das Wissen über ein erhöhtes Risiko für den weiteren Lebensverlauf eines Menschen? Wie gehen Betroffene damit um? Zudem sensibilisiert es für die Frage, wie die Demenzversorgung aussehen sollte – individuell, aber auch mit Blick auf die gesamte Pflegebranche.
Fest steht: Unsere Bevölkerung wird älter und mit dem Alter steigt auch das Risiko, an Demenz zu erkranken. Zudem sind primäre Demenzerkrankungen nicht heilbar. Aktuell ist ein gesunder Lebensstil die einzige Möglichkeit der Prävention. Allerdings gibt es durchaus Aussichten auf vielversprechende Medikamente. In den USA wurde beispielsweise zu Beginn des Jahres ein Medikament zugelassen, das die Bildung der für die Krankheit charakteristischen Eiweiß-Ablagerungen verzögert. Die Entscheidung einer Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA diesbezüglich steht allerdings noch aus.
Welche Implikationen hat die Demenzvorhersage?
Wir kommen also nicht umher, uns mit dem Thema der Demenzversorgung auseinanderzusetzen. Mittlerweile ist es mit einfachen Bluttests möglich, das Demenz-Risiko oder eine Frühdiagnose schon vor Eintritt der ersten Symptome zu bestimmen. Aber was bedeutet das für Betroffene, für die Versorgung und den Umgang mit der Krankheit? Gemeinsam mit Kolleg*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) brachte IEGUS 2018 in dem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Diskursverfahren „Konfliktfall Demenzvorhersage“ alle relevanten Akteure im Rahmen einer Stakeholderkonferenz zusammen.
Gemeinsam erarbeiteten die Teilnehmer*innen eine erste deutschsprachige Stellungnahme bezüglich der Implikationen der Demenzvorhersage und setzten damit den Grundstein für einen weiteren fachlichen und öffentlichen Diskurs. Das Ergebnis: Eine Demenzvorhersage ist unter den aktuell gegebenen Umständen nicht zu empfehlen. Voraussetzung für die Durchführung ist eine interdisziplinäre Beratung für Betroffene.
Nicht allein – Angehörige und Erkrankte beraten
In Anlehnung an die Stellungnahme der Stakeholderkonferenz stellt sich die Frage: Wie kann Beratung zur Demenzvorhersage und Frühdiagnose von Demenz aussehen? Damit beschäftigten sich IEGUS und die UMG im Anschluss an das Diskursprojekt in einem von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. geförderten Projekt: „Gut beraten: Neue multimodale und standardisierte Beratungsmodelle für Menschen im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung bzw. im Rahmen einer Demenzvorhersage.“ Die Gedächtnisambulanz der Universitätsmedizin Göttingen erprobte hier ein kostenloses Informations- und Beratungstelefon für Personen mit einer subjektiven oder leichten Gedächtnisstörung sowie für besorgte Angehörige. Zusätzlich bot eine begleitende Website die Möglichkeit, Informationen über demenzielle Erkrankungen und Diagnoseverfahren in einfacher Sprache abzurufen.
Sowohl das Beratungstelefon als auch der im Projekt entwickelte Gesprächsleifaden wurden noch während der Projektlaufzeit evaluiert. Das Ergebnis: Betroffene nutzten die Hotline mehr als erwartet und auch zahlreiche Angehörige meldeten sich. Es scheint also bei Betroffenen wie Angehörigen von Menschen vor oder mit ersten subjektiven Gedächtnisstörungen einen hohen Beratungsbedarf zu geben, der bisher nur unzureichend adressiert wird. Denn ein vergleichbares Angebot war niemandem bekannt. Das Beratungstelefon kam auch inhaltlich gut an. Die Teilnehmer*innen waren mit der telefonischen Beratung und mit der durchschnittlichen Gesprächsdauer von 20 Minuten zufrieden.
Im Rahmen des Projektes erforschte IEGUS mit dem Fokus auf Gedächtnisambulanzen und fachärztliche Schwerpunktpraxen zudem folgende Fragen:
- Wie ist die Demenzvorhersage und Früherkennung sozial- und leistungsrechtlich verankert?
- Wie kann die Finanzierung von Diagnose und Beratung aktuell und zukünftig gestaltet werden?
Dafür analysierte das Institut die sozial- und leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen, modellierte die Kosten für eine telefonische Erstberatung und ordnete diese in die Abrechnungssystematiken ein. Im Ergebnis stellte sich heraus, dass die Rahmenbedingungen und Finanzierung der Bereiche Beratung, Diagnostik und Therapie angepasst werden müssen. Nur so gelingt ein kostendeckendes und qualitätsgesichertes Angebot schon in frühen Phasen der Alzheimer-Erkrankung oder anderer demenzieller Erkrankungen. Eine Weiterentwicklung des Systems ist spätestens dann nötig, wenn zukünftig die präventive und psychosoziale Beratung an Bedeutung gewinnt.
Demenzversorgung innovativ gestalten
In dem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie wollen wir Menschen mit Demenz versorgen oder im Falle einer Erkrankung selbst versorgt werden? Dabei sollten die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz nicht außer Acht gelassen werden. Für das Bundesministerium für Gesundheit führte IEGUS eine Literaturstudie durch, die sich innovativen Versorgungsmodellen in den verschiedenen Settings widmet. Die Ergebnisse wurden für die Nationale Demenzstrategie aufbereitet. Die Literaturstudie nahm sowohl segregative als auch integrative Versorgungsansätze in den Blick – also jene mit einer räumlichen Abgrenzung der Menschen mit Demenz und jene, die im kommunalen Raum in der eigenen Häuslichkeit stattfinden.
Die betrachteten innovativen Versorgungsansätze förderten positive Effekte auf die Lebensqualität der Menschen mit Demenz. Dies zeigte sich vor allem bei Ansätzen, die die individuellen Bedürfnisse dieser in den Fokus nahmen. Zudem wurde ein positiver Effekt auf die Lebensqualität von Menschen mit Demenz festgestellt, wenn sie mit der Unterstützung von informell oder professionell Pflegenden einen normalen Tagesablauf einhalten konnten. Für pflegende Angehörige hat besonders das „Dementia Care Management“ – ein Versorgungsansatz für in der eigenen Häuslichkeit lebende Menschen mit Demenz – eine entlastende und unterstützende Wirkung. Die Auswirkungen innovativer Versorgungsansätze für Pflegekräfte bedürfen jedoch weiterer Forschung – ebenso wie die gesundheitsökonomischen Auswirkungen. Beide Themen haben für die Praxis eine hohe Relevanz.
Klar ist: Das Thema Demenz gewinnt in den nächsten Jahren auch aufgrund von demografischen Entwicklungen an Bedeutung. Deshalb müssen sich Forschung und Praxis der Frage widmen: Wie gestalten wir in den nächsten Jahren die Versorgungs- und Arbeitsbedingungen? Und welche innovativen Konzepte der Demenzversorgung lassen sich für alle Beteiligten erfolgreich umsetzen?
(1) Chris Hemsworth to take ‘time off’ from acting after discovering Alzheimer’s risk: https://www.theguardian.com/film/2022/nov/21/chris-hemsworth-to-take-time-off-from-acting-after-discovering-alzheimers-risk?CMP=Share_AndroidApp_Other
Text: Benjamin Herten/Leonie HeckenTitelbild: © LIGHTFIELD STUDIOS/ Adobe Stock
Benjamin Herten
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