BTHG-Umsetzung in NRW: „Wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen“
In Zusammenarbeit mit der contec bereitet die Graf Recke Stiftung in Düsseldorf und Umgebung derzeit die nach dem BTHG anstehenden neuen Leistungs- und Vergütungsverhandlungen vor. Wir haben mit Reimund Weidinger, Geschäftsbereichsleiter Sozialpsychiatrie und Heilpädagogik, und Birgitta Neumann von der contec über die BTHG-Umsetzung in NRW, die Vorbereitung und Erstellung des Fachkonzepts, über die Akzeptanz für den Change bei den Mitarbeitenden, Chancen und Herausforderungen der Personenzentrierung und die bevorstehenden Verhandlungen gesprochen.
Herr Weidinger, die Übergangsfrist für die BTHG-Umsetzung in NRW und damit für die neuen Verhandlungen mit den Trägern der Eingliederungshilfe wurde kürzlich bis 2025 verlängert. Ist jetzt Entspannung angesagt?
Weidinger: Keinesfalls! Diese Verlängerung für die BTHG-Umsetzung in NRW wurde ja nicht eingeräumt, damit sich alle Beteiligten noch etwas zurücklehnen können, sondern weil es einfach zu viele Leistungserbringer in unserem Land gibt, als dass die Verhandlungen so schnell abgeschlossen werden könnten. Wir gehen davon aus, dass trotzdem wie geplant nächstes Jahr die ersten Gespräche stattfinden werden und auch weit vor 2025 Träger zu Verhandlungen aufgefordert werden. Dafür müssen wir alle gut vorbereitet sein.
Das heißt, Sie möchten Ihre Fachkonzepte zeitnah erarbeitet haben, um eine gute Grundlage für die Verhandlungen vorzuhalten?
Weidinger: Genau. Wir behalten unseren Fahrplan trotz der Verlängerung bei. Dann haben wir ausreichend Zeit, um auch noch nachzujustieren.
Neumann: Und das rate ich auch allen anderen Leistungserbringern. Beispiel Psychiatrie: Bei einer aktuellen Fachkraftquote von 90 Prozent, die sich notwendigerweise flexibilisieren muss, um Leistungen personenzentriert zu erbringen, brauchen die Organisationen hier die Zeit, um erstens die weit verbreitete Haltung zu überdenken, dass die Begleitung von psychisch erkrankten Menschen unbedingt eine Fachkraft erfordert, und zweitens, um den Personalmix und die Arbeit nach und nach zu verändern.
Wie weit sind Sie denn mit der Umsetzung des BTHG in Ihren Einrichtungen der Graf Recke Stiftung?
Weidinger: Im Rahmen des Projekts mit der contec und Frau Neumanns Team sind die Fachkonzepte der beiden Piloteinrichtungen nun so gut wie fertig. Mit den Ergebnissen dieser Konzepte sowie den Erkenntnissen aus dem Erarbeitungsprozess werden wir dann in den übrigen Einrichtungen auch zeitnah beginnen. Die Workshops mit den Mitarbeitenden laufen in diesen Einrichtungen bereits. Hier erarbeiten die Teams gemeinsam eine IST-Analyse, also welche Leistungen derzeit erbracht werden und wie sie zu den Hilfeplänen unserer Nutzer*innen passen, und eine SOLL-Konzeptionierung, also welche Leistungen wir neu ins Portfolio aufnehmen müssen bzw. welche wir wie selbstverständlich erbringen, obwohl sie gar nicht notwendig oder gewünscht sind. Darauf aufbauend definieren wir das Leistungsangebot neu und verschriftlichen es im Fachkonzept. Ich bin zuversichtlich, dass wir das mit den Erfahrungen aus den Piloteinrichtungen in allen anderen Einrichtungen nun professionell und zeitlich absehbar umsetzen können.
Das klingt fast zu schön. Gibt es denn auch Schwierigkeiten?
Weidinger: Ich hätte diesen Prozess ehrlich gesagt gern schon vor einigen Jahren gestartet, aber damals fehlte die Akzeptanz in der Mitarbeiterschaft. Wenn so etwas – beispielsweise ein Analyseprozess – als eine Maßnahme erlebt wird, die „von oben“ verordnet wird, dann entsteht eben schnell der Eindruck, der Arbeitgeber wolle „nur“ die Arbeit der Mitarbeitenden kontrollieren. Einige Mitarbeitende fühlen sich schnell durch den Veränderungsprozess in ihrer Arbeit abgewertet, als wäre die Art, wie sie bisher gearbeitet haben, nicht gut genug gewesen. Durch die externe Begleitung haben wir dieses Akzeptanzproblem nun nicht mehr, weil eine fachliche und objektive Hinführung durch das Team von Frau Neumann diese Dynamik lösen konnte. Die Partizipation bei dem gesamten Prozess ist hier ein Schlüssel zum Erfolg.
Frau Neumann, wie erleben Sie die BTHG-Umsetzung in NRW und auch mit Blick auf Träger in anderen Ländern? Ist die Akzeptanz der Mitarbeitenden ein Problem?
Neumann: Es ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema, aber nicht das einzige. Es ist wichtig, den Mitarbeitenden, gerade denen, die seit Jahren oder Jahrzehnten Menschen sehr fürsorglich begleitet und betreut haben, zu verdeutlichen, dass ihre bisherige Arbeit keineswegs wertlos oder gar schlecht war. Aber das ist ja gar nicht die Frage. Die Zeiten haben sich eben verändert. Was bisher als gut und richtig galt, wird jetzt hinterfragt und ggf. angepasst und verbessert. Diskrepanzen zwischen dem, was auf dem Papier steht und dem, was wir wirklich tun, werden beseitigt. Das ist gut und wichtig und diskreditiert nicht das, was die Mitarbeitenden bislang getan haben.
Ein weiteres, vielleicht noch größeres Problem bei der BTHG-Umsetzung in NRW, aber nicht nur dort, sehe ich in einer Haltung bei manchen Organisationen selbst. Dort werden die Umsetzung des BTHG und die Erstellung eines Fachkonzepts eher als gesetzliche Verpflichtung angesehen. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Das Formelle, also die Neudefinition und Verschriftlichung des Leistungsangebots sowie alles, was an verwaltungstechnischen, fachlich-methodischen und personellen Fragestellungen damit einhergeht, funktioniert nur, wenn es in Einklang mit Mitarbeiter-, Klienten- und Trägerinteressen gebracht wird. Die Anforderungen von Menschen mit Behinderungen werden sich verändern, vor allem die jüngere Generation wird die personenzentrierte Hilfe einfordern und das mit Recht. Außerdem wird der Leistungsträger im Rahmen der Wirksamkeit deutlich stärker prüfen, ob das neue Konzept auch wirklich gelebt wird. Die Träger benötigen für die Umsetzung Zeit, das dürfen sie nicht unterschätzen. Das System der differenzierten Leistungen wird nur funktionieren – auch wirtschaftlich – wenn die Mitarbeitenden das Konzept verinnerlichen. Deshalb funktioniert es in der Graf Recke Stiftung auch so vorbildlich. Weil hier beide Seiten der Medaille zusammengedacht und bearbeitet werden.
Herr Weidinger, wie stellen Sie das sicher? Welche Maßnahmen haben Sie seit Einführung des BTHG ergriffen?
Weidinger: Eine unserer wichtigsten Maßnahmen war die Einführung eines neuen Strukturelements: das Teilhabe-Management. Dieses neue geschaffene fachliche Know-how dient der personen- und sozialraumorientierten Teilhabeplanung, die den Willen der Leistungsberechtigten in den Vordergrund stellt. Verlauf und Fortschritte der Teilhabeplanung werden im Rahmen des Teilhabemanagements geprüft, um auch eventuellen Problemen und Qualitätsmängeln vorzubeugen. Die Teilhabemanager*innen sind ausgebildete Fachkräfte aus dem eigenen Mitarbeiterstamm sowie von extern rekrutiert. Sie sind die objektive Entscheidungsebene, damit personenzentrierte Unterstützung von Anfang an funktionieren kann. Unsere Einzugsgebiete haben wir in Sozialräume eingeteilt und jede*r Teilhabemanager*in ist für einen Sozialraum zuständig. Dafür müssen sie auch die trägerübergreifenden Angebote im Sozialraum gut kennen.
Neumann: Das Element des Teilhabe-Managements der Graf Recke Stiftung macht noch mal deutlich, was viele Einrichtungen noch lernen müssen: In Zukunft kommt es nicht mehr darauf an, ob ein Mensch zu einer Einrichtung passt, sondern ob eine Einrichtung bzw. ein Angebot zum Menschen passt.
Es gibt also noch viel zu tun – sowohl auf konzeptioneller als auch auf kultureller Ebene. Wie darf ich mir denn ein gemeinsames Projekt wie das der contec und der Graf Recke Stiftung vorstellen?
Neumann: Unsere Aufgabe als externe Beratung sehe ich darin, Unsicherheiten auf Kunden- und Mitarbeiterseite abzubauen bzw. den Prozess zu versachlichen. In den gemeinsamen Workshops sind wir einerseits fachliche Unterstützung, aber vor allem stellen wir hinsichtlich der Leistungen und Arbeitsergebnisse solche Fragen, die andernfalls die Leistungsträger stellen, wenn es ernst wird. Das mag unbequem sein, aber eben innerhalb eines geschützten Raums. Ein externer Akteur ist oft eher in der Lage, auch solche Debatten über Wertschätzung zu neutralisieren, wie sie eben angeklungen sind. Und was mir sehr wichtig ist: Unsere Philosophie sieht vor, dass wir nicht hingehen und das Fachkonzept für den Kunden herunterschreiben – das könnten wir natürlich, es würde aber nicht dazu führen, dass die Mitarbeitenden es akzeptieren und verinnerlichen. Wir begleiten die Kunden bei dem partizipativen Prozess mit den Mitarbeitenden, moderieren, stellen Fragen, geben fachlich-methodische Hinweise und kommen so gemeinsam zu einer „Fachkonzeptreife“. Die Überführung in ein schriftliches Konzept ist so ziemlich der kleinste Teil.
Weidinger: Für mich als Geschäftsbereichsleiter ist diese Arbeit der contec sehr entlastend. Ich kann mich drauf verlassen, dass sowohl die Bestandsaufnahme als auch die Neudefinition der Leistungen fachlich fundiert sind. Gleichzeitig wird die Akzeptanz durch die Partizipation der Mitarbeitenden sichergestellt und die Objektivität schafft Sicherheit. contec hat eine profunde Vorbereitung auf die Leistungs- und Vergütungsverhandlungen vorgenommen.
Und worin sehen Sie beide die nächsten Herausforderungen? Oder auch Chancen?
Neumann: Was auf jeden Fall noch eine große und neue Herausforderung wird, für die wir auch noch keine endgültige Lösung haben, ist das finanzielle Risiko bei der personenzentrierten Leistungserbringung für den Fall, dass Klient*innen eine vereinbarte und bezahlte Leistung nicht wahrnehmen. Die Mitwirkung ist ja nicht ausschließlich von den Mitarbeitenden abhängig, sondern auch von der Tagesform und der Laune des Menschen.
Weidinger: Gerade in der Sozialpsychiatrie ist zu beobachten, dass gewisse Angebote auch spontan mal nicht wahrgenommen werden. Das Personal muss von uns als Leistungserbringer aber trotzdem bereitgestellt und entsprechend bezahlt werden. Hinzu kommt die Flexibilisierung des Personaleinsatzes und die fachliche Durchmischung der Teams im Bereich Wohnen. Es werden unter Umständen mehr Teilzeitkräfte gebraucht, die starre Dienstplanstruktur wird abgelöst. Dabei muss aber realistisch berücksichtigt werden, dass wir ohnehin unter einem Fachkräftemangel leiden und der Beruf durch eine solche Umstellung nicht unattraktiver werden darf.
Neumann: Ein gutes Konzept muss daher von vielen verschiedenen Seiten berechnet werden: Betriebswirtschaft, Personalsteuerung, Bedarfe der Klient*innen, Kultur der Mitarbeitenden. Erst im Alltag wird sich zeigen, was funktioniert und was nicht. Nachträgliche Überarbeitungen sind wahrscheinlich und auch nicht durch die Träger der Eingliederungshilfe ausgeschlossen.
Weidinger: Wir fragen uns tatsächlich auch, welches Rollenverständnis die Mitarbeitenden in Zukunft von sich selbst haben werden. Was braucht es für die Personalneuaufstellung? Wie wird die Rückführung der Fachkraftquote gesteuert? Woher kommen die Assistenzkräfte? Diese Fragen im Personalbereich zu beantworten wird neben unserer Fachkonzepterstellung noch eine der größeren Baustellen werden.
Aber ich habe das BTHG, den Landesrahmenvertrag und das, was damit zusammenhängt, immer auch als Chance gesehen. Einfach mal alles, was die letzten 25 Jahre selbstverständlich war, von rechts auf links zu krempeln und einer Revision zu unterziehen. Die Personenzentrierung steckt voller Chancen für unsere Klientel, besonders für eine Assistenz auf Augenhöhe. Auch im sozialpsychiatrischen Bereich, in dem wir sehr stark vertreten sind. Wir blicken also grundsätzlich trotz der großen Herausforderungen zuversichtlich in die Zukunft.
Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch!
Text: Marie Kramp© by Seventyfour
Birgitta Neumann
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