Birgitta Neumann im Interview mit dem BeB
Für die Mitgliederzeitschrift „BeB Informationen“, Ausgabe 63 (Dezember 2017) hat der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) ein Interview mit Birgitta Neumann, Marktfeldleiterin Behinderten- sowie Kinder- und Jugendhilfe bei contec, durchgeführt. Mit ihr sprachen Rolf Drescher und Thomas Schneider. Mit freundlicher Genehmigung des BeB nun auch hier auf conZepte nachzulesen.
Frau Neumann, was reizt die contec, jetzt verstärkt bei der Behindertenhilfe einzusteigen?
Die contec hatte den Bereich schon lange im Portfolio. Aktuell ist das Bundesteilhabegesetz sicherlich ein Auslöser für einen erhöhten Beratungsbedarf. Es gibt mittlerweile zahlreiche Anfragen zur Entwicklung von Organisationsstrukturen als Reaktion auf die gesetzlichen Neuerungen. Auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Menschen mit Behinderung führt zu Veränderungen, die die contec mitgestalten möchte.
Welche Veränderungen erwarten Sie in der Behindertenhilfe?
Ich glaube, wir müssen unsfragen, wie wir in der sozialen Arbeit mit Menschen mit Behinderung umgehen. Stellt man sich dieser Frage, verändert sich im Grunde genommen die gesamte Systematik. Es verändert zum einen die Grundhaltung der Menschen, zum anderen das Angebot und die Ablauforganisation der Leistungserbringer. Wenn Träger den Grundsatz der Personenzentrierung ernst nehmen, hat das Auswirkungen auf die Gestaltung der Leistungsangebote.. Mit Blick auf die Veränderungen durch das PSG III wird natürlich auch insbesondere die Schnittstelle von Pflege und Eingliederungshilfe ein Thema sein, welches die Branche in der näheren Zukunft stark beschäftigen wird.
Welche strategischen Ansätze verfolgt contec, sowohl bei der konkreten Beratung als auch bei dem Ziel, gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen?
Speziell im Bereich der Behindertenhilfe befinden wir uns zurzeit in der strategischen Neuausrichtung. Ich glaube, dass man in der Behindertenhilfe zweigleisig fahren muss: Zum einen müssen als direkte Reaktion auf die gesetzlichen Veränderungen Antworten auf Herausforderungen im operativen Bereich gefunden und Angebote dementsprechend entwickelt werden. Zum anderen müssen auf Ebene des Managements Position und Herangehensweise bezüglich der Auseinandersetzung mit den Veränderungen klar definiert werden. Diese beiden Ebenen möchten wir adressatengerecht ansprechen. Wir haben kürzlich damit angefangen, exklusive Gesprächskreise speziell zum Thema BTHG auszurichten. Begleitend werden wir zudem Workshops anbieten, die sich explizit mit operativen Fragen auseinandersetzen. Klar ist, wir werden in näherer Zukunft weitere Plattformen etablieren und Angebote zu dem Thema schaffen, um bundesweit als kompetenter Partner in dem Bereich wahrgenommen zu werden. Mit Blick auf die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft gilt es zudem, den Schwung aus den medienwirksamen Diskussion um das BTHG aufzunehmen und den öffentlichen Diskurs weiter zu stärken.
Worin genau liegen aus Ihrer Sicht die Herausforderungen für die Träger?
Ich glaube, dass die Mitarbeitenden von dem Anspruch, den Menschen gerecht zu werden, voll überzeugt sind. Diese Idee auch auszuleben, scheitert leider jedoch oft an den sehr starren Systemen. Mit dem BTHG wird jetzt natürlich dieser Anspruch qua Gesetz deutlich forciert. Personenzentrierte Hilfen, die wir uns schon vor Jahren gewünscht haben, sind sicherlich jetzt schon weitaus fortgeschrittener. Dennoch glaube ich, dass der gesetzliche Rahmen, der auch die Institutionen zu Veränderungen zwingt, schon ein anderer ist. Daher bin ich durchaus gespannt, denn auch bisher vieles denkbare schlichtweg in der Realität nicht umsetzbar.
Wenn Sie noch einmal den großen Horizont einbeziehen, sagen wir seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention – wo stehen wir da?
Ich finde, es hat sich schon sehr viel getan. Es ist nicht die fehlende Bereitschaft, die Schwierigkeiten macht. Wir müssen mittlerweile mit anderen Zwängen rechnen. Wir haben in Deutschland mittlerweile mit einem enormen Fachkräftemangel, mit hohem Verwaltungsaufwand und zahlreichen Auflagen, wie beispielsweise den Heimgesetzen, zu kämpfen. Unter dem Eindruck all dieser Widrigkeiten ist bei der Gestaltung von Organisationsformen und Versorgungsmodellen mitunter der machbare Weg nicht immer der beste.
Zudem glaube ich, muss man aufpassen, dass das System nicht zu Lasten der Betroffenen überfordert wird. Gerade beim Leben im Quartier – es ist ja nicht immer so, als warten alle Nachbarn darauf, Menschen mit Behinderung zu helfen. An solchen Stellen wird klar, wir leben in zum Teil sehr anonymen Strukturen. Die Sensibilität für den Mitmenschen, ist teilweise nicht so hoch, wie wir uns in das einer mitunter sozial idealisierten Perspektive vorstellen.
Stichwort Sozialraum: Die verschiedenen Arbeitsfelder müssen zusammengeführt werden, aber es geht auch um Konkurrenz. Komplexträger haben es da sicherlich leichter. Aber wenn bestimmte Teile in die Pflege gehen, fallen andere Angebote weg. Und es geht auch um fachliche Deutungshoheit, um Konzepte.
Wenn ich als Mensch mit Behinderung die Wahl habe und sehe, dass der eine Träger es nicht leisten kann, ein Netzwerk aus Angeboten zu schaffen, ein anderer hingegen schon, dann ist die Wahl klar. Und ich glaube schon, dass die Menschen immer selbstbewusster werden und eine gute, qualitativ hochwertige Hilfe einfordern. Das wird letztendlich der Markt entscheiden.
Der BeB hat in letzter Zeit zwei Projekte realisiert: Zum einen das Aktionsplan-Projekt, zum anderen aktuell den „Index für Partizipation“. In beiden geht es darum, den Kunden zu stärken, also die Kundenperspektive in unsere Arbeit rein zu nehmen und die Beteiligung so zu organisieren, dass die Kunden befähigt werden zu gucken, wer kann mir denn das beste fachliche Angebot machen.
Im Grunde muss ja jeder Träger sich damit auseinandersetzen. Menschen mit körperlichen Behinderungen haben ganz andere Möglichkeiten bei der Einforderung ihrer Bedürfnisse als z.B. geistig behinderte Menschen, bei denen sich oft die Angehörigen einschalten. Das merken auch die Träger:
Eltern wollen, dass ihr Kind gefördert wird und haben ganz andere Erwartungen. z.B. möchten sie, dass ihre Kinder möglichst selbstständig leben und, wenn möglich, auch eine Arbeit wahrnehmen können. Die Generation, die früher Vollversorgung inklusive wollte, die gibt es so nicht mehr. Und das merken die Träger. In dieser Hinsicht müssen sie sich viel mehr mit Rückmeldungen auseinandersetzen, mit Kundenwünschen und ähnlichem. Das hat Auswirkungen auf die gesamte Organisation, und die werden an uns herangetragen.
Die Träger merken das – das klingt ja optimistisch. Sie sehen das positiv?
Im Moment ist das noch sehr diffus, weil keiner so genau weiß, was da auf uns zukommt. Es ist auch gepaart mit einer Unruhe und mit einer gewissen Unsicherheit. Es gibt auch Träger, die die Zeit nutzen, sich intern mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen und stellen sicher, dass sie die Mitarbeitenden wirklich mitnehmen. Sie wollen nicht nachher nur reagieren. Das heißt, Träger nutzen jetzt die Chance und überlegen sich, wie können wir uns auf Dauer aufstellen? Welche Strategien können wir bis 2020 oder 2025 umsetzen?
Bis Ende 2016 war die Diskussion über das BTHG von der Frage geprägt, wollen wir das oder nicht. Jetzt ist eine gewisse Erleichterung zu spüren: Das Gesetz ist da und wir diskutieren über das Wie.
Bis Ende 2016 waren ja auch wirklich viele Damokles-Schwerter in der Luft. Dass man z.B. nicht wusste, wie sich der Gleichrang zur Pflege äußern wird. Es gab auch immer dieses Gefühl der Unsicherheit angesichts potentieller kurzfristiger Änderungen des Gesetzgebers kurz vor Toresschluss.. Jetzt sind die Rahmenbedingungen klar. Sie sind nicht überall optimal, aber zumindest wissen alle Beteiligten, worauf sie sich einstellen müssen. Der Blick wird nun auf der Umsetzung in den Ländern ruhen, denn da gab es in der Vergangenheit natürlich schon große Unterschiede, was die Ausgestaltung und Finanzierung von Hilfsangeboten angeht.
Aber das könnte im Prinzip bei Trägern ähnlich sein, dass vielleicht manche Leitungen auch dankbar sind, dass man über den Rahmen nicht mehr diskutieren muss, sondern nur noch über die Konkretisierungen redet.
So ist es. Und in dieser Hinsicht muss sich jetzt auch etwas tun. Im letzten Jahr wurden viele Fragen eher aufgeschoben, da der Ausgang der Gesetzgebung einfach noch nicht klar war. Jetzt hingegen gilt es, die oberste Managementebene für die notwendigen Veränderungen zu sensibilisieren. Insbesondere bei Vorständen von Komplexträger, in deren Angebotsportfolio die Behindertenhilfe nur einen kleinen Teil ausmacht und die z.B. nicht in Fachverbänden engagiert sind, erfordert das sicher einige Überzeugungsarbeit.
Wirkungskontrolle ist ja im Moment noch eine große Black Box – also die Frage, wie das gestaltet wird, welche Modelle es da gibt.
Das ist eine Frage, mit der wir uns gerade sehr aktiv beschäftigen: Welche Tools können geschaffen werden, um eine authentische und transparente Wirkungskontrolle erreichen zu können? Denn es geht ja um Leistungen, die nicht so klar messbar sind. Wie beziffere ich z.B. die allgemeine Zufriedenheit? Die Erhaltung des Ist-Zustandes ist z.B. ja ein wichtiger Schritt – wie bewerte ich das?. Damit setzen wir uns derzeit stark auseinander.
Der BeB wird wahrscheinlich im nächsten Jahr zusammen mit der Diakonie Deutschland einen internen Workshop machen zu dem Thema, auch zur eigenen Positionsbestimmung. In den Vorgesprächen ist deutlich geworden: Mit welchem Blickwinkel will ich denn messen? Wer ist denn mein Stakeholder?
Da muss man aufpassen, dass die Motivation nicht rein monetär ist, denn dadurch ginge der Urgedanke des BTHG verloren. Dann geht es um monetäre Steuerung und letztendlich auch Kürzung. Das eigentliche Ziel ist ja, den Menschen individuelle Möglichkeiten der Teilhabe zu bieten. Und dann kann es eben auch sein, dass die Wirkung monetär nicht so deutlich sichtbar ist, wie es vielleicht für die Lebensqualität der Fall ist.
Ich habe selbst lange auch im stationären Bereich gearbeitet. Es ist schon so: Die Routine verführt manchmal zu blinden Flecken. Dass es ein System des internen Coachings gibt und man sich kritischer mit Fragen nach Wert und Nutzen der Angebote für die Lebensqualität der Menschen auseinandersetzt, halte ich für einen guten Ansatz. Dass es nicht diesen Automatismus der Hilfe gibt – einmal Hilfe, immer Hilfe. Das ist ja auch ein häufiger Vorwurf den Werkstätten gegenüber. Dass wir dort im Sinne der UN-BRK und tatsächlich gelebter Teilhabe neue Wege finden müssen müssen, ist ja ganz klar. Aber die Sorge ist schon, dass manche Bundesländer das wirklich nur zur finanziellen Steuerung nutzen.
Wenn die contec in der Behindertenhilfe stärker einsteigt, ist für Sie dann ein Bundesfachverband wie der BeB ein potentieller Partner, wo Sie sagen, da können wir uns die eine oder andere Aktivität gemeinsam vorstellen?
In jedem Fall. Wir haben das ja auch schon öfter gemacht, z.B. bei Tagungen, Kongressen und ähnlichem. Wir sind derzeit dabei, Formate und Plattformen zu identifizieren, denn der Bedarf nach Austausch in der Behindertenhilfe besteht unbestritten. Von Themen operativer Art über Managementfragen bis hin zu den aktuellen Trends im Personalbereich. Die Möglichkeiten sind da vielfältig und der BeB ist sicherlich ein starker Partner für die Gestaltung von Dialogforen, Aktionstagen etc.
Wir überlegen auch, welche technischen Mittel und Formate für Mitglieder könnte es geben, Vernetzung zu ermöglichen.
Der informelle Austausch innerhalb der Branche ist enorm wichtig. Ich besuche selbst viele Tagungen und Vorträge. Die Dialoge mit tatsächlichem Netzwerkcharakter finden jedoch viel mehr im informellen Rahmen statt. Das ist ein Bereich auf den wir schauen müssen, mit dem Bestreben, Rahmenbedingungen für praktische Kontakte und informellen Austausch zu schaffen. Unter den jüngeren Kolleginnen und Kollegen ist es z.B. deutlich verbreiteter, sich regelmäßig über neue Medien auszutauschen. Auch hier müssen wir uns engagieren und den Dialog zwischen den Generationen stärken. Beispielsweise könnte man im Nachgang zu Tagungen Foren schaffen, wo dann der kollegiale Austausch ermöglicht wird. Vor allem aber müssen wir uns stärker mit den Möglichkeiten im digitalen Bereich, Skype Social Media, Intranet und Co., auseinandersetzen. Hier können wir viel von den Jungen lernen.
Sie haben, Frau Neumann, eine multiperspektivische Sicht auf den BeB durch die verschiedenen Funktionen, die Sie in den vergangenen Jahren innehatten. Wie haben Sie den BeB in der Zeit erlebt, wie ist ihr Blick auf den BeB?
Ich bin ja „Diakonie-Kind“ und habe sehr viele Veranstaltungen des BeB besucht. Was mir mitunter ein wenig fehlte, war aktiv wahrgenommen und beteiligt zu werden.. Ich habe das Gefühl, es gibt eine Art „Inner Circle“, der seit Jahren sehr stabil ist. Da hätte ich zum Beispiel in jüngeren Jahren gerne mehr mitgestaltet, hatte aber keine Chance, da reinzukommen. Die Frage ist also, wie man es schafft, neue Leute mit ihren Ideen in diesen Kreis zu integrieren.
Ich habe bei contec durch viele Termine Vorstände oder Geschäftsführer kennengelernt, die nicht schon ewig in der Szene sind. Und das sind zum Teil total interessante Menschen, die eine eigene unternehmerische Sozialisation erfahren haben und ganz neuen Input mitbringen.
Die andere Frage ist, bei der Verdichtung, die überall stattfindet, wie viele dieser interessanten Menschen kann ich für die Verbandsarbeit gewinnen, die einfach auch die Zeit haben.
Im Moment ist es auch bedingt durch das BTHG eine interessante Zeit, um beim BeB mitzumachen, denn dadurch gelangt man an eine gute WIssensquelle. Für die Motivation ist das sicher nicht schlecht, wenn die Leute merken, beim BeB gibt es gute Angebote in Bezug auf das BTHG.
Ist das Ihre Wahrnehmung?
Ich glaube schon, dass der BeB als Mitgliedsverband ein gutes Angebot leistet. Durch den Mitgliederrundbrief fühlte ich mich gut informiert zu den Anlaufstellen für die verschiedenen fachlichen Fragestellungen. Das politische Engagement in der ganzen Klärungsphase habe ich schon als Mitglied damals gespürt. Und contec hat nicht umsonst jetzt den Kontakt zu Ihnen gesucht, weil wir schon sagen, der BeB ist ein starker und auch sehr anerkannter Fachverband.
Derzeit arbeitet eine AG Strategieentwicklung 2025 an den Fragen: Passen unsere Strukturen noch, haben wir noch die richtigen Themen, Arbeitsweise, Kommunikationsformen oder Formate? Gibt es zwei, drei Punkte, die Sie dem BeB auf den Weg geben würden, wenn er sich zukunftsgerecht aufstellen will?
Meines Erachtens erfüllt das Angebot des BeB bereits sehr gut die Aufgaben eines Fachverbandes, was sicherlich dazu geführt hat, dass ich mich trotz anderer Verbandszugehörigkeit die ganzen Jahre dem BeB sehr so verbunden gefühlt habe. Ein Vorschlag wird auch in Teilen schon umgesetzt: Ich finde die Zusammenarbeit mit der freien Wirtschaft vor allem auf Tagungen absolut spannend, weil ich denke, dass wir davon sehr viel lernen können und es meines Erachtens auch die Vorträge noch mal etwas belebt.
Frau Neumann, vielen Dank für das Gespräch.
Birgitta Neumann
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