Vielfältigen Anforderungen begegnen: Wie viel Agilität braucht die Soziale Arbeit?
Bereits seit Jahren setzt sich auch die Soziale Arbeit mit den Ansätzen der Agilität auseinander, um flexibel und kurzfristig auf Veränderungen reagieren zu können. In der Theorie gut, in der Umsetzung jedoch berichten uns viele Führungskräfte von Überforderung, weil sie das Gefühl haben, sich um mehr als zuvor kümmern zu müssen – das Gegenteil von dem, was Agilität eigentlich bezwecken soll. Aber müssen sie das auch wirklich?
Wir leben in bewegten Zeiten. Die Auswirkungen der Pandemie und die gesellschaftliche Verunsicherung durch den Krieg in der Ukraine und daneben die demografischen und sozialrechtlichen Herausforderungen, die die Branche schon seit Jahren beschäftigen, wirken sich massiv auf die Führung sozialer Organisationen aus. In der Beratung erleben wir, dass Führungskräfte sich mit einer Masse an Fragen nach Entscheidung, Sicherheit und Führung konfrontiert sehen. Der gefühlte und erlebte Druck verführt oft dazu, schnell alles „selber zu machen“, der Teufelskreis beginnt. Ein Argument das wir häufig hören, wenn Führungskräfte sich selbst zu sehr im operativen Alltag einbringen, liegt in ihrem subjektiven Gefühl, dass keine andere Person im Unternehmen bestimmte fachliche Entscheidungen treffen könne oder aber niemand die Verantwortung dafür tragen wolle. Doch ist ein solcher Führungsstil in der Sozialen Arbeit auf Dauer sinnvoll und leistbar? Und welche Alternative gibt es?
Zu viel Einmischen ins operative Geschäft durch die Führung lähmt die Organisation und deren Weiterentwicklung. Ressourcen und Potenziale werden nicht ausgeschöpft, es besteht die Gefahr des Flaschenhalses, der letztendlich trotz allem Engagement zu einer Verlangsamung notwendiger Prozesse führt. Und das bedeutet ein hohes Risiko für das Unternehmen.
Es ist ratsam, sich auf allen Ebenen mit den Rollen und Kompetenzen im Unternehmen auseinanderzusetzen und zu überprüfen, wie Mitarbeitende befähigt werden können, eigene Entscheidungen zu treffen und wie Verantwortung anders verteilt werden kann. Agile Ansätze können für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen hilfreich sein. Agilität ist jedoch kein Wundermittel, man sollte sie differenziert betrachten.
Flexibel auf Anforderungen reagieren: Agile Ansätze
In der Theorie existieren verschiedene Definitionen von Agilität. Unter Berücksichtigung dessen fokussiert dieser Beitrag den Ansatz selbstgesteuerter Teams. So versuchen prominente Vorschläge zur Agilität, die hierarchische Struktur der Organisation durch selbstorganisierte Teams zu ersetzen (s. dazu z. B. Laloux 2016 oder Robertson 2016). Darüber verspricht man sich, flexibel und schnell auf die Anforderungen in der modernen Arbeitswelt reagieren und schnelle Entscheidungen treffen zu können. Zudem werden die Entscheidungen möglicherweise konsequenter umgesetzt, da die Mitarbeitenden am Prozess partizipieren und sich somit eher mit der entsprechenden Lösung identifizieren. Allerdings hat die Organisationsforschung schon früh, z. B. durch Mayntz (1963) und Luhmann (1964), die Funktionen von Hierarchien in Organisationen nachgewiesen. Hierarchische Strukturen dienen in Organisationen dazu, Entscheidungen zu treffen und somit trotz Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben. Soziale Organisationen stehen also in einer Art Spannungsfeld: Es braucht mehr Agilität, um den komplexen äußeren Rahmenbedingungen gerecht zu werden, aber es braucht auch klare Leitplanken, die den Mitarbeitenden den Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sie möglichst eigenverantwortlich agieren können. Es ist ein schmaler Grat, den zu finden und den Führungsstil der gesamten Organisation entsprechend anzupassen eine der Aufgaben zeitgemäßer Führung ist.
Wieviel Agilität ist in der Sozialen Arbeit zielführend?
Die Soziale Arbeit verändert sich getrieben durch unterschiedliche Entwicklungen stetig. So stoßen die Sozialgesetzgebung, neue Formen der Finanzierung und Abrechnung sowie der Leistungserbringung und -planung Veränderungsprozesse in der Branche an. Weitreichende Auswirkungen hat außerdem der Paradigmenwechsel hin zu einem personenzentrierten und bedarfsorientierten Leistungsangebot. Inklusion, Selbstbestimmung und Diversität bilden den Rahmen moderner Sozialer Arbeit. Diese umfassende Entwicklung erfordert innovative Ansätze und Lösungen innerhalb der Organisation. Agile Ansätze bieten Möglichkeiten, flexibel auf heterogene Anforderungen der Umwelt zu reagieren. Doch bevor man in einem Anflug von Aktionismus die ganze Organisation auf selbstgesteuerte Teams umstellt, lohnt es sich, auch die Vorteile der klassischen Hierarchie in Erinnerung zu rufen:
- Geschwindigkeit: Eine Person entscheidet häufig zügiger als eine Gruppe
- Innovationskraft: Durch Autorität lassen sich Ideen ohne vollständige Zustimmung durchsetzen
- Unsicherheit: Vorgesetzte sind bei aufkommenden Fragen eine sichere Anlaufstelle
- Konfliktlösung: Von Vorgesetzten getroffene Entscheidungen können Konflikte beenden
Es gilt abzuwägen, wann und wie agile Ansätze sinnvoll und hilfreich sind. Selbstorganisierte Teams sind kein Selbstläufer und es zeigt sich darin oft, dass sich unter Umständen informale Führungsrollen herausbilden. Entscheidungen werden dann nicht „wirklich“ im Team unter Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven getroffen, sondern durch die lauteste, klügste, stärkste oder geschickteste Person.
Organisationen, die sich mit agilen Ansätzen auseinandersetzen, müssen somit graduelle Entscheidungen treffen. Es ist nicht notwendig, die Organisation vollständig umzukrempeln. In dem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Wieviel Agilität lässt man als Organisation zu und wieviel klassische Hierarchie braucht es weiterhin? Und wie wird überhaupt der Zufluss von Agilität gesteuert? Folgende drei Ansätze können dabei hilfreich sein:
Agiles Führungsverständnis und Beratung: Die Begriffe Führungskraft und Agilität wirken zunächst wie ein Widerspruch. Es ist jedoch wichtig, dass die Führungskraft weiß, in welchen Situationen eine Entscheidung über Hierarchien zu treffen ist und wann eher nicht. Denn gerade im Bereich Sozialer Arbeit gibt es viele Situationen, in denen die unterschiedlichen Perspektiven der Mitarbeitenden hilfreich sind und angehört werden sollten. Die Führungskraft tritt in diesen Fällen eher in eine beratende Rolle. Agile Führung will verhindern, dass sich eine informale Führung gruppendynamisch festsetzt, ohne dabei das Ergebnis der durch die Mitarbeitenden dezentral getroffenen Entscheidungen in Frage zu stellen.
Transparente Kommunikation: Damit innerhalb von Teams agile Entscheidungen möglich sind, benötigen die beteiligten Mitarbeitenden transparenten Zugang zu Informationen. Ohne diesen können sie ihre professionelle Meinung nicht äußern. Um die Passung zwischen Bedarf und Leistung zu optimieren, braucht es interne Kommunikationssysteme ebenso wie geeignete Dokumentationssysteme. EDV-Systeme können dabei unterstützen, die Leistungserbringung sowie die Kommunikation in den Teams zu strukturieren und damit effizient zu gestalten.
Qualitätsmanagement: Qualitätsmanagementsysteme bieten durch ihre Vorgaben eine gewisse Prozesssicherheit. Sie stecken damit den Entscheidungsrahmen der Mitarbeitenden ab. Zudem lässt sich mit Hilfe der Vorgaben genauer regeln, wieviel Agilität eine Organisation zulässt.
In welchen Bereichen profitieren soziale Organisationen von agilen Ansätzen?
Agile Ansätze – ohne einen kompletten Verzicht auf Führungsrollen – eignen sich besonders für folgende branchenspezifische Herausforderungen:
Personenzentrierung umsetzen: Soziale Arbeit ist ein Feld sozialer Dienstleistungen mit individuellen Lösungsansätzen. Jeder begleitende, unterstützende und empowernde Prozess ist unterschiedlich und basiert auf anderen Rahmenbedingungen sowie Problemlagen. Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen sowie das Bundesteilhabegesetz, aber auch Forschungsstränge wie Gender Studies oder Diversität, unterstreichen die Erwartung, Soziale Arbeit personenzentriert und nicht aufgrund bestehender Organisationsstrukturen umzusetzen. Die Leistungen sollen den Bedarfen der Menschen folgen und nicht aus einer Gewohnheit heraus erbracht werden. Regelmäßige Feedbackschleifen und die Berichte von Mitarbeitenden, die in direktem Kontakt zu den Klient*innen stehen, ermöglichen es den individuellen Bedürfnissen der Klient*innen gerecht zu werden.
Arbeitgeberattraktivität steigern: Für die Mitarbeitenden ändert sich durch agile Ansätze die alltägliche Arbeit, da sie stärker beteiligt werden. Besonders Mitarbeitende der jüngeren Generation spricht der selbstständige Arbeitsstil an. In diesem Sinne sind agile Ansätze brauchbare Elemente zur Steigerung der Arbeitgebermarke und können letztlich auch der Mitarbeitergewinnung dienen. Bei erfolgreicher Anwendung und Darstellung profitiert die Fachkräftegewinnung durch die Darstellung als attraktiver Arbeitgeber.
Vielfältigkeit organisieren: Teams von Anbietern sozialer Dienstleistungen sind zum Teil sehr vielfältig, multiprofessionell oder örtlich getrennt. Aus diesem Grund haben Führungskräfte häufig die Verantwortung für thematisch oder geografisch heterogene Teams. In diesem Zusammenhang profitieren sie von selbstorganisierten, agilen Teams, die autonom Entscheidungen treffen und ihre Kompetenzen zielgerichtet einbringen können.
Führungsverständnis schärfen und auf allen Ebenen implementieren
Die Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig Agilität, zu starren und zu losen Hierarchien, die soziale Organisationen jetzt gehen müssen, ist vor allem ein Appell zur Selbstreflexion: Welches Führungsverständnis herrscht in einer Organisation und ist dies innerhalb der Leitungsebenen homogen oder heterogen? Werden Entscheidungen flaschenhalsartig getroffen oder gibt die Führung auch Verantwortung ab? Welche Maßnahmen gibt es, um die mittleren Führungsebenen und die Mitarbeitenden zu befähigen, mehr Verantwortung zu tragen? Wie sind die internen Kommunikationsstrukturen gestaltet und ermöglichen diese die notwendige Transparenz und Information für flachere Hierarchien? Führungsworkshops und eine Analyse der derzeitigen Entscheidungsprozesse und Kommunikationswege helfen dabei, sowohl den Wünschen der Mitarbeitenden nach Orientierung und Sicherheit nachzukommen als auch das nötige Maß an Agilität zuzulassen, damit flexibel auf die steigende Komplexität der Branche reagiert werden kann.
Text: Leonie Hecken/Sebastian MatysekTitelbild: © rh2010
Sebastian Matysek
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