Augen zu und durch? – Zum Umgang mit Krisen in der Sozialwirtschaft
Von Birgitta Neumann
Unternehmerische Krisen sind in der Sozialwirtschaft nicht mehr die Ausnahme, auch soziale Organisationen können in Schieflagen geraten – sei es in wirtschaftlicher oder fachlicher Hinsicht. Selbst große, bisher erfolgreiche Leistungserbringer berichten uns zum Teil von wachsenden Deckungslücken, ohne dass sie die Ursachen dafür wirklich definieren können.
Wie konnte es dazu kommen? Was wurde übersehen? Oder ist diese Entwicklung vielleicht unumgänglich angesichts der aktuellen „Krise als Normalzustand“? Letzteres ist natürlich eine rhetorische Frage.
Die Sozialwirtschaft profitierte m. E. in der Vergangenheit von einem System, das zwischen Leistung, Finanzierung und Selbstverständnis der Beteiligten gut austariert war. Veränderungen wurden eher schrittweise und graduell vollzogen – sie haben das bestehende System ergänzt und erweitert, aber nicht gänzlich umgekrempelt. Dieses Selbstverständnis und diese Kultur sind spätestens z.B. mit lauteren Forderungen nach Inklusion und schließlich mit dem neuen SGB IX und Teilen des SGB VIII ins Wanken geraten. Mittlerweile ist die Branche mit einem grundlegenden Veränderungsbedarf an bestehenden Strukturen, der Finanzierung und vor allem dem Selbstverständnis mit Blick auf die eigene inhaltliche Arbeit konfrontiert. Ein scheinbar plötzlicher Mangel an Personal, eine nicht gekannte Teuerungsrate und ein zukünftig wesentlich komplexeres Leistungsbild inklusive neuer Leistungsfelder erschweren den notwendigen Veränderungsprozess zudem.
Das Management und die Unternehmensstrukturen der Branche haben alle Umbrüche bisher gut gemeistert und doch – so mein Eindruck – stößt man nun, angesichts dieser relativ ungekannten und hochkomplexen Veränderungsanforderung, mit dem bewährten Methodenkoffer immer häufiger an Grenzen.
Krisen kündigen sich an – wenn man genau hinsieht!
Hinzu kommt: Die vergangenen Jahre waren und sind von massiven gesellschaftlichen Ereignissen geprägt, die unmittelbare Auswirkungen auf soziale Organisationen haben. Covid 19, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, Klimakatastrophe, Energiekrise. Es fühlt sich an, als stolperten wir von einer Krise in die nächste, ohne Zeit, um Luft zu holen, geschweige denn eine Krise mal aufzuarbeiten. Es ist menschlich, darauf mit Angst, Bagatellisierung oder Verdrängung zu reagieren – alles allerdings keine guten Ratgeber, um tatsächlich mit Krisen umzugehen, weder politisch noch persönlich noch beruflich.
So, wie gesellschaftliche Krisen sich ankündigen und deren Vorreiter zum Teil fahrlässig von der Politik ignoriert oder bagatellisiert werden, so kündigen sich auch unternehmerische Problemlagen an – was ihnen eigentlich den Schrecken nehmen sollte. Denn was sich ankündigt, kann vorbereitet (oder im besten Fall: abgewendet) werden. Doch in den letzten Jahrzehnten ist vor allem die Eingliederungshilfe in aller Regel von schlimmen Krisen verschont geblieben, sie war gut ausgestattet mit ausreichend Mitteln, die Refinanzierung gesichert, die Nachfrage beständig. Durch das neue SGB IX samt seiner neuen Refinanzierungsmechanismen, der Möglichkeit für Leistungsträger, Mittel zurückzufordern und der Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts spüren immer mehr Organisationen, dass es möglicherweise aufgrund der bisher auskömmlichen Lage an einer Strategie mangelt, die auch schwierigere unternehmerische Situationen abfedert.
Mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl: Krisensignale richtig deuten
Scheinbar selbstverständliche Signale, die solche Situationen ankündigen, sind zum Beispiel
- sinkende Umsätze, rückläufige Gewinne und der Verzehr von Eigenkapital
- abnehmende Zahl der Beschäftigten im Bereich der Werkstätten oder lange Bewohnervakanzen im Bereich besonderer Wohnformen
- sich häufende Beschwerden durch Kunden oder Reklamationen von Aufsichtsbehörden
- zunehmende Team-Konflikte, Überbelastung oder Abwanderung der Mitarbeitenden
Und obwohl diese Signale mehr sind als ein Wink mit dem Zaunpfahl, können zum Teil Situationen entstehen, die daraus resultieren, dass o. g. Hinweisen eher aktionistisch denn strategisch begegnet wird, z. B.:
- Die ungeprüfte und „gut gemeinte“ Aufnahme von Menschen mit schwerem herausfordernden Verhalten führt zu Überforderung aufgrund von Fachkenntnis- und Fachkraftmangel bzw. fehlender konzeptioneller Grundlagen.
- Zum Teil bestehen fachliche Mängel oder – in ganz drastischen Fällen – die Betriebserlaubnis wurde bereits entzogen.
- Personalmangel führt dazu, dass nicht mehr alle Leistungen erbracht werden können.
- Es fehlt an einer detaillierten Finanzplanung mit einer Erfolgs-, Bilanz- und Liquiditätsplanung, dafür häufen sich überfällige Forderungen i. V. m. einem ineffizienten Mahnwesen.
- In drastischen Fällen können betriebswirtschaftliche Schieflagen die Organisation in den Verlust der Zahlungsfähigkeit stürzen.
Alle oben beschriebenen Situationen können für zum Teil existenzbedrohende Krisensituationen sorgen und doch, wenn man genau hinschaut, wären sie in den meisten Fällen zu verhindern, wenn man die Warnzeichen aktiv nutzt, um nötige Veränderungen vorzunehmen. Psychologisch können folgende Ursachen ein zu spätes Handeln begünstigen:
- Frühwarnsignale werden zum Teil falsch eingeschätzt oder nicht wahrgenommen
- Manchmal herrscht Unwohlsein mit der Rolle des ‚Hiobs-Botschafters‘ oder gar des Sanierers
- Man könnte die Sorge haben, als Führungskraft „schuld“ an der Krise zu sein
- Man sucht nach punktuellen Ursachen, statt den Blick aufs Ganze zu richten
- Ein falscher Optimismus könnte verheißen: „Uns wird es schon nicht treffen“
Weg vom Aktionismus: Prävention mit der richtigen Strategie
Ein Großteil der Krisen liegt in internen Faktoren begründet. Es lassen sich vielfältige Reaktionen beschreiben, mit denen einer Krise begegnet werden kann: von Verleugnung bis zu Aktionismus mit kurzfristigen, eventuell sogar positiven Effekten. Sinnvoller ist aber eine fundierte Auseinandersetzung mit der notwendigen Veränderung.
Es geht also um Prävention. Wie kann man vorbeugen?
Betrachtet man die Ursachen für Krisen, ergibt sich daraus ein Lösungsansatz: Es bedarf einer Strategie, die interne und externe Ursachen von Krisensituationen antizipiert und ihnen zuvorkommt.
Interne Ursachen für Krisen
Der interne „Krisen-Monitor“ sollte ein besonderes Augenmerk auf folgende Aspekte richten: Qualität und Refinanzierungsstruktur des Leistungsangebotes, „Vertragstreue“ bei abgeschlossenen Leistungsvereinbarungen, ausreichend (Fach-)Personal, nicht nur in der operativen Leistungserbringung, Professionalität im Debitoren- und Kreditorenmanagement sowie im Finanz-, Personal- und Fachcontrolling.
Häufig bilden ineffektive und ineffiziente Strukturen und Prozesse im Management die Ausgangslage für eine Schieflage, seien es fehlende strategische Ziele mit den daran gebundenen Maßnahmen, langwierige bis fehlende Entscheidungen oder eine schwierige Führungs- und Unternehmenskultur.
Externe Ursachen für Krisen
Es kann gar nicht überschätzt werden, wie wichtig es ist, den Blick auf Außenfaktoren zu richten, möglichst im Rahmen einer strategischen Planung, und dort gezielt nach Warnsignalen – oder nennen wir es freundlicher: Hinweisen – zu suchen, die Potenzial haben, eine Krise auszulösen. Hierzu zählen insbesondere
- (demografische und gesellschaftliche) Veränderung von Bedarfslage und Nachfrage
- Neue gesetzliche Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf bestehende Strukturen, z. B. die Auflagen zur Betriebserlaubnis im SGB VIII oder das Recht auf Rückforderung im SGB IX
- Eintritt neuer Wettbewerber
- Steigende Kosten im Bereich von Personal und Sachmitteln und in Einzelfällen Schwierigkeiten in der Einigung mit den Leistungsträgern
Begünstigt Ihre Unternehmenskultur die Auseinandersetzung mit Krisenpotenzialen?
In Zeiten, in denen gesellschaftliche Krisen sich multiplizieren und damit wohl oder übel auch unternehmerische Krisen begünstigen – zusätzlich zu den ohnehin herausfordernden Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft – reicht der Hinweis auf Führungserfahrung allein oft nicht mehr aus, um eine Organisation ruhig und sicher durch den Sturm zu navigieren. Wir empfehlen Führungskräften daher, sich selbst und ihr Management vor dem Hintergrund folgender Aspekte selbst zu reflektieren:
Beobachten wir den Markt und dessen Veränderungen sowie die Einflüsse auf unsere Organisation konsequent und systematisch? Und wenn ja, was machen wir mit den Ergebnissen?
☛ Belegungseinbrüche sind ein guter Indikator dafür, dass mein Angebot nicht zur Nachfrage passt und ich aktiv werden muss. Ignoranz hat noch nie geholfen.
Wie wirksam sind die Steuerungsinstrumente und werden sie auch für die Unternehmensführung genutzt?
☛ Zahlen sprechen eine klare Sprache, aber es gibt auch qualitative Kennzahlen!
Lässt unsere Unternehmenskultur eine Auseinandersetzung mit Risiken zu?
☛ Mitarbeitende müssen einen Einblick in relevante Faktoren für die Unternehmenssicherheit bekommen und befähigt werden, Krisenursachen und -signale zu erkennen.
Wie transparent ist unsere interne Kommunikation?
☛ Der „Flurfunk“ übernimmt im Zweifel diese Aufgabe und schürt Sorgen und Ängste, selbst wenn diese noch gar nicht begründet sind.
Krisenmanagement und -kommunikation sind unabdinglich, wenn die Problemlage einmal eingetreten ist. Und es ist auch möglich, eine in die Schieflage geratene Organisation wieder aufzurichten und zukunftsfähig zu machen. Um aber gar nicht erst so weit zu kommen, empfehlen wir, die hier nur exemplarisch angerissenen Warnsignale nicht zu ignorieren, sei es aus Angst oder aus Optimismus. Man sollte sie eher als willkommene Botschafter werten, die der Organisation die Chance bieten, rechtzeitig einzulenken und die notwendige strategische Neuausrichtung anzugehen.
Wir sind dabei gern Ihr Partner!
Birgitta Neumann
Birgitta Neumann steht Ihnen für alle Fragen rund um das Thema Strategie- und Managementberatung zur Verfügung.