Ein System vor dem Kollaps? – Warum die Ruhrgebietskonferenz ein Sondervermögen für die Pflege fordert
Jeden Tag berichten die Medien über neue Hilferufe aus der Sozialbranche – das Auslaufen des Corona-Schutzschirms für die Pflege, die seit September geltende Tarifpflicht und allen voran die explodierenden Energiekosten stellen eine gesamte Branche vor nie dagewesene Herausforderungen. Wie reagiert die Politik? Und was fordern Vertreter*innen aus der Pflege selbst? Mit einem von ihnen haben wir über steigende Energiekosten für die Pflege gesprochen. Ulrich Christofczik ist sicher: Es braucht eine politische Kraftanstrengung – und zwar jetzt.
? Hören Sie hierzu jetzt auch Folge 56 unseres Podcasts Zukunft der Pflege!
Die Energiekrise in Europa spitzt sich zu, die Kritik an der Bundesregierung – sei es zu der Gasumlage von Wirtschaftsminister Habeck oder den Entlastungsbemühungen der Ampel – war deutlich zu hören. Nicht nur Industrie und Privathaushalte sehen sich durch die massiven Energiepreissteigerungen bedroht, auch und vor allem soziale Einrichtungen, in denen besonders vulnerable Gruppen leben, wissen nicht, wie sie die immensen Kosten stemmen bzw. an welchen Stellen sie Gas und Strom einsparen sollen. Täglich flattern neue Forderungen nach Entlastungen und Refinanzierung bei der Politik ein, selten war die Branche uni sono so laut und engagiert. Und das ist auch gut so, denn die Lage ist ernst.
Ein Rückblick: Der Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg sprach in einem offenen Brief vom 23. August gar vom möglichen „Aus einer ganzen Branche“. Auch der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) hat mehrfach auf die dramatische Lage mit Blick auf die Kostensituation in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe verwiesen und forderte einen Energiekosten-Rettungsschirm. Die Evangelische Heimstiftung (EHS) erwartet ein Entlastungspaket für die Heimbewohner*innen. Noch einen Schritt weiter ging die Ruhrgebietskonferenz Pflege: In einem öffentlichen Statement vom 29. August forderte der Zusammenschluss aus Pflegeanbietern im gesamten Ruhrgebiet ein sogenanntes Sondervermögen für die Pflege mit Blick auf die steigenden Energiekosten. Dies sind nur einige Beispiele: Die Pflegebranche ist es leid, immer an letzter Stelle zu stehen. Wenngleich vereinzelte Forderungen von Landesministerien in Richtung Bund kommen (z. B. aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen), so ist es doch die Branche selbst, die mit allen Mitteln für sich einsteht.
Die Finanzierungssystematik ist am Ende angekommen
Die Lage ist unübersichtlich und dynamisch, das weiß auch Ulrich Christofczik, Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege, Vorstand des Evangelischen Christophoruswerk e. V. und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg GmbH: „Wir haben es mit einem ganzen Paket an Mehrbelastungen für die Pflege zu tun. Die Inflation, die alles um sieben bis zehn Prozent teurer macht, die fortbestehenden Corona-Schutzmaßnamen, die seit Juli nicht mehr über den Rettungsschirm kompensiert werden, für bisher nicht tarifgebundene Einrichtungen gilt seit diesem Monat die Tariftreueregelung und dazu kommen noch die astronomisch hohen Preissteigerungen von Gas und Strom.“ Er selbst hat die neuen Angebote seiner Energieversorger vorliegen: Für seine sechs Einrichtungen musste Christofczik bislang ca. 350.000 Euro pro Jahr an Gaskosten kalkulieren. „Ich habe jetzt ein Angebot vorliegen, das sich auf 3,4 Mio. Euro beläuft. Das ist eine 1000-prozentige Steigerung. Selbst wenn die Kostenträger wollten, wie sollten sie das refinanzieren?“ Christofczik ist davon überzeugt, dass die Finanzierungslogik der Pflegeversicherung am Ende angekommen ist. Seit Jahren fordern er und seine Kolleg*innen die im Rahmen der Initiative pro Pflegereform ins Spiel gebrachte Neusortierung hin zu einem Sockel-Spitze-Tausch in der Pflegeversicherung, damit nicht jede Preissteigerung zu Lasten der Bewohner*innen und letztlich auch zu Lasten der Kommunen geht. „Wenn die Entscheidungsträger*innen nicht sofort reagieren, dann rutschen auch noch die letzten 60 Prozent der Heimbewohner*innen in die Hilfe zur Pflege. Das kann niemand wollen.“ Eine Antwort auf die kaum in Worte zu fassenden finanziellen Herausforderungen der Pflegebranche kann laut Christofczik nicht im aktuellen System der Pflegeversicherung gefunden werden. Die für seinen Träger zuständigen Kostenträger – die AOK Rheinland/Hamburg als verhandelnde Pflegekasse, der Landschaftsverband Rheinland als überörtlicher Sozialhilfeträger und die Stadt Duisburg – haben zwar einer 7,5-prozentigen Steigerung des Pflegesatzes zugestimmt, „was es für eine auskömmliche Refinanzierung bräuchte, wären aber 35 Prozent!“
Sondervermögen: Eine „populistische Forderung“ mit Wirkpotenzial
Ulrich Christofczik ist sicher, dass es eine tiefgreifende Pflegeversicherungsreform braucht, um die Branche vor der Katastrophe zu bewahren, doch selbst wenn die politischen Entscheidungsträger*innen diese angehen sollten, kann dies die kurzfristigen Sorgen von Pflegeheimbetreibern und Bewohner*innen nicht abmildern. Christofczik ist seit über 35 Jahren in verschiedenen diakonischen Trägern der Altenhilfe engagiert, aber noch nie habe er die Branche derart in ihrer gesamten Existenz bedroht gesehen wie heute. „Die Finanzierung war vorher schon Spitz auf Knopf. Angesichts der aktuellen Entwicklungen braucht es eine riesige politische Anstrengung, sonst gehen viele Pflegeheime in die Insolvenz – und das, obwohl es keinerlei Nachfrageproblem gibt, im Gegenteil.“ Die Forderung seines Interessenverbunds nach einem Sondervermögen für die Pflege sei indes bewusst populistisch formuliert. „Zwanzig-seitige Stellungnahmen bewirken häufig nicht das, was sie sollen, sie landen ungelesen in der Schublade. Ich bin kein Freund von populistischer Vereinfachung, aber manchmal muss Komplexität reduziert werden: Die Pflege braucht Geld, und zwar jetzt!“ Er verweist auf die Fähigkeit des Parlaments, binnen zwei Wochen fast einstimmig ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr zu verabschieden. „Die Krise, die uns droht, wenn nichts unternommen wird, dürfte eine solche Forderung durchaus rechtfertigen. Insofern ist sie vielleicht etwas populistisch, aber nicht weit hergeholt.“
Ein Lichtblick?
Verbände und Interessenvertretungen sind sich einig: Es braucht schnelle Lösungen. In einer Pressemeldung vom 2. September sah der bpa einen ersten Lichtblick in einem Positionspapier der SPD-Fraktion. Darin fordert sie „zur kurzfristigen Stabilisierung von Unternehmen, sozialen Dienstleistern, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen […],
- dass Preissteigerungen für Unternehmen bei längerfristigen Verträgen mit der öffentlichen Hand nach Möglichkeit weitergegeben werden können;
- eine Verlängerung des erleichterten Zugangs zum Kurzarbeitergeld über den 30. September 2022 hinaus;
- bei Bedarf die Aufnahme sozialer Dienstleister, Tafeln, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen unter einen Schutzschirm.“ (s. Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion vom 2.9.22)
→ Update Stand 29.9.22: Inzwischen hat auch das Gesundheitsministerium um Karl Lauterbach verkündet, dass Energiehilfen für Pflegeheime und Krankenhäuser geplant sind. Am 29.09. einigte sich die Ampelkoalition nach langen Verhandlungen auf eine Gaspreisbremse.
Doch vorerst bleibt die Lage für die Branche weiterhin unklar. Ulrich Christofczik gibt die Hoffnung nicht auf: „Wenn das hier kein Weckruf ist, was ist es dann? Wir als Pflegebranche müssen in unserer Lobbyarbeit eng und verbandsübergreifend zusammenstehen und dürfen nicht aufhören, laut zu sein.“
Von: Marie Kramp
Martin Merkel
Sie haben Fragen rund um das Thema Energiekosten oder zu Möglichkeiten der Sachkosten- und Verwaltungsoptimierung? Sprechen Sie uns gerne an!